Zwischen Wandel und Dauer– ein Porträt zeitgenössischer Kunst

Werteverfall oder Wertewandel in unserer Gesellschaft, in unserer Zeit?
Diese Frage ist gestellt als Seminar eines philosophischen Gesprächskreises 2002

Unter dem dem thematisch variierten Aspekt „Dauer und Wandel“ blickt mein Beitrag auf die Kultur unserer Gesellschaft, und zwar auf die Kunst, speziell auf die zeitgenössischen Formen der bildende Kunst.

Die Bezeichnung „Porträt” möchte sagen, dass meine Darstellung eine von vielen möglichen ist, wie es der Vielzahl künstlerischer Auffassungen und Formen im gesellschaftlichen Pluralismus entspricht.                                                                       Ich versuche, die künstlerische Produktion der letzten fünfzig Jahre daraufhin zu durchdenken, in wie weit sie traditionell bekannte Werte der Kunst transportiert, abhandelt, fallen läßt oder gegen sie Front macht. Dabei beziehe ich mich vorwiegend auf das Bild, das auf einer Fläche fixiert ist, später diese verläßt, um in die Räumlichkeit vorzudringen als Assemblage, Installation, Environment.

1. Welches sind traditionelle Werte,
die im Umgang mit Kunstwerken zur Sprache kamen und kommen?

An erster Stelle steht zweifellos die für das Kunstwerk charakteristische
Beziehung zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, Schein und Sein, Wahrheit und Fiktion.
In der Antike beginnen die Reflexionen über die Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem und die Offenheit ihres wechselseitigen Bezugs. Sie sind bis heute in zahlreichen Interpretationen eine unerschöpfliches Themenquelle des Kunstdiskurses, die zudem nicht nur Theoretiker beschäftigt, sondern auch Praktiker, wie schon die Anweisung von Plinius (1.Jahrh.n.Chr.) beweist:”Die Kontur nämlich muß um sich selbst herumlaufen und so aufhören, dass sie anderes erwarten läßt und hinter sich auch das zeigt, was sie verbirgt…….” Hier wird vielleicht zum ersten Mal schriftlich eine strategische Absicht erwähnt, das Nichtdarstellbare zu einer visuellen Darstellung zu machen.
Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist der künstlerische Wert, der die traditionelle Aura eines Kunstwerkes ausmacht. Dieses Unsichtbare wurde in der hellenistischen und in der christlich-religiösen Kunst als Absolutum gedacht. Wenn sich vor ihm keine Knie mehr beugt, ist die Kunst freigesetzt – auch zum Pluralismus der Auffassungen und ihrer Kommentare, wie die Kunst der Modernen zeigt. Und obwohl die Kunst heute auf den Nimbus des Absoluten verzichtet, zieht sie ein großes Publikum an, das in großzügigen Ausstellungen bedient wird.

Aus dem Nimbus, oder anders ausgedrückt, aus der metaphysische Dignitität des Kunstwerks resultiert sein Ansehen und Aspekte seiner Autonomie.
Das Verständnis dieser Autonomie verlagerte sich von einem hinter der Präsentation wahrgenommenen idealen oder transzendenten Inhalt auf das Kunstwerk selbst und  verfestigte sich seit dem 19. Jahrhundert zu einer L’art pour l’art-Position. Das schloss zunächst die eben genannten Inhalte nicht aus, ließ aber auch eine Entwicklung zu, die das Kunstwerk an sich verabsolutierte. Die Aura der so gesehenen Kunst erwächst aus werkimmanenten Gegebenheiten, nicht aus abbildenden Qualitäten. Die Kunstwerke beziehen sich also nicht nur auf einen Inhalt, sondern sie thematisieren zugleich die Mittel, mit dem sie ihn darstellen. Im Zusammenhang von Darstellung und inhaltlicher Selbstrepräsentation entsteht die eigentliche Dichte des Werks. Materialität und Eigenwirklichkeit des bildnerischen Mediums werden zur Basis künstlerischer Produktion und Rezeption.

Zusammenfassung
Die Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Wahrheit und von Darstellung und Selbstreferenzialität bilden die Basis meiner Überlegungen zu Wertewandel in zeitgenössischer Kunst.

2. Wenn Wandel Werte schafft, dann fragt es sich: welche?

Bei der so genannten Avantgarde nach 1945 spannt sich die Moderne in vielfältigen Ausdrucksformen zwischen abstraktem Expressionismus, Farbfeldmalerei, Realismus, Konzeptkunst bis zum Cross-over aller Medien aus, um nur einige der in Erscheinung tretenden Kunstformen zu benennen. Videofilm und Computer stehen als zusätzliche Medien bereit und lassen alte Fragen des Kunstdiskurses neu beantworten.

Ab den Siebzigerjahren beginnt eine Tendenz, die so gründlich das Sein vom Schein entkleidet und die künstlerische Autonomie so weit treibt, dass sie nicht mehr begrenzbar ist, sondern ins Alltagsleben einfließt
Heinrich Klotz (Kunst im 20.Jahrhundert, 1999) spricht in diesem Zusammenhang von der “Selbstbegründung“ der Kunst. Mit ihr beginnt der Bruch mit allen anderen Epochen und die ungeheure Anstrengung für Künstler und Rezipient, jede Orientierung aus sich selbst zu schöpfen. Damit wird Kunst in ihren besten Formen freier Ausdruck menschlicher Reflexions-und Bildfähigkeit. Da sie keiner Regelhaftigkeit unterliegt, gewinnt sie an Lebendigkeit und Freiheit, verläßt das Kunst-Ghetto und verschmilzt mit dem Leben.

Der Ansatz dieser Entgrenzung ist nach K.P. Liessmann (Philosophie der modernen Kunst, 1999) schon im 18. Jahrhundert von Kant gedacht worden in seiner Darstellung der ästhetischen Erfahrung. Kant verfolgt dabei die Gedanken, dass angesichts von Kunst und Natur ästhetischer und Erkenntnis bezogener Gewinn nur haben kann, wer wahrzunehmen imstande ist. Damit wird das Ästhetische in gewisser Weise vom Objekt abgezogen und mit dem Rezipienten verbunden. Im betrachtenden Menschen vollzieht sich das Kunstwerk. Wobei Kant weiterhin die Kunst autonom gehalten haben möchte, nicht zur Verfügung stehend für jede Art von Fremdbestimmung. Allerdings erkennt auch er, dass in der Darstellung zum Beispiel eines mächtigen, überhängenden Felsens nicht diesem die Qualität des Erhabenen anhaftet, sondern dem Gefühl des Rezepienten.

Die Aufwertung der Rolle des erlebenden Betrachters bringt in unseren Jahren eine Bewegung in Gang, die die Kunst aus dem Rahmen treten lassen möchte, wodurch sie sich gewissermaßen mit dem davor stattfindenden Leben des Betrachters vereinen kann. “Kunst ist Leben und Leben ist Kunst”, so bringt Wolf Vostell (bekannter Happening-Künstler) in den Sechsziger Jahren diese Ziel auf den kürzesten Nenner. Der elitäre Hoheitsanspruch von Kunst wird demokratisiert, unter anderem auch einer Massengesellschaft angepasst (Pop-Art). Doch die Entgrenzung war schon ab der Zwanzigerjahren praktisch angepeilt – durch Duchamps Ready-mades.

Auch der Vorgang des Kunstproduzierens gewinnt als Handlung, somit dem Leben zugehörig, eine neue Wichtigkeit. (Action Painting) Sie kann den öffentlich agierenden Künstlers zum Star werden lassen.

Die Forderung in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts heißt also:
Kunst ist in Leben zu überführen.

Mit dieser Tendenz werden Werte an Lebendigkeit und Freiheit gewonnen und die Werte der Fiktion verloren. Denn Fiktion soll am Ende der Entwicklung ausgeschlossen werden, da gerade sie Kunst von Lebenswirklichkeit unterscheidet. Ohne sie kann die Kunst ins Leben eindringen und kein Unterscheidungsmodus ist mehr gegeben. Kunst und Leben werden eins.
So das Ziel der so genannten Postmodernen, für die aber schon von den Kunst­wissenschaftlern der Nachruf bereitgelegt wird, da seit den Neunzigerjahren die Fiktion wieder mit Macht in die Kunstproduktion hineindrängt und mit ihr Akzente, die mehr an die davorliegende Modernen denken lassen.

Aus diesen und anderen Voraussetzungen haben sich in der zeitgenössischen Kunst eine Vielzahl von Positionen entwickelt, die sich in unterschiedlichen künstlerischen Richtungen und Benennungen verästeln. Im dabei entstehenden Dschungel der Kunstproduktion und -theorie kann ich im hier gegebenen zeitlichen Rahmen nur wenige Ankerplätze anbieten. Diese hoffe ich mit Hilfe von Abbildungen und ihrer Kommentierung deutlicher zu markieren.