Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 5 – Hans Arp

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen der fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

 

GESETZ IM ZUFALL
UND
ORDNUNG IM CHAOS

Hans Arp
Configuration volier dans la forȇt, 1958
Reliefcollage, Öl auf Karton, 55 x 46 cm

 

Mit der Wolke gegen die Strömung
Mit Papier und Schere in der Hand und der inneren Bereitschaft, aufzunehmen, was ihm zufällt, bildete Hans Arp seine eigentümlichen Formen. Auf den ersten Blick sind sie uns fremd und doch vertraut; sie sind ungegenständlich, erscheinen jedoch nicht abstrakt, weil sie naturhaft sind; sie sind gebaut und organisch, aber schweben und fließen, obwohl sie sich zu maßvoller Monumentalität verfestigen.
Wie entstehen diese widersprüchlichen Wirkungen, welchen Zufällen vertraut Hans Arp wagemutig sein künstlerisches Tun an? Sie lassen seine “morgenrote traumwolke” aus der Hand fallen, „die sterne spalten sich und speien attrappen” und trotzdem verkündet der junge Arp: „Den alten Adam zieh ich aus zwölfmal pro Tag zum Zeitvertreib.” So steht es jedenfalls in seinem dichterischen Werk, das parallel zum bildnerischen geschieht. Bei beiden Künsten offenbart Hans Arp Wohlbefinden in der unberechenbaren Welt des nicht Vorhersehbaren. Er entzieht sich spielerisch, burlesk dem Zugriff des Rationalen, das nach seiner Meinung zu sinnleeren Traditionen geführt hat, entseelende Technisierung vorantreibt und einen blindem Fortschrittsglauben vertritt. Distanziert zu den äußeren, materiellen Leistungen der Wissenschaft möchte sie Arp ausbalancieren durch Zuwendung zur Innerlichkeit, durch „ein Mehr an Traum”. Zu ihm gelangt er mit dem Vehikel des dadaistischen Unsinns, der nicht Blödsinn ist, sondern „dada ist unsinnig wie die natur und das leben.”
Dada hat also komplexeren Sinn als mit den gebräuchlichen Meinungen und Regelwerken zu fassen ist. Diesem Weiten, Ungefähren vertraut sich Arp im Zufall an. Es verspricht ihm unmittelbares Lebendigsein. Natur ist für ihn nicht in determinierenden Gesetzmäßigkeiten gefangen, sie ist nicht benutzbar zur Erfüllung menschlicher Fortschritts- und Wohlstandsträume, sondern sie ist belebendes Innerstes alles Existierenden.

Das Tor des Zufalls
Der offen angelegte künstlerische Akt verhilft diesem Inneren sich zu äußern, sich im Bildhaften zu manifestieren. Wenn Arp sich dem Zufall ausliefert, ihn das Geschehen auf der Bildfläche organisieren lässt, entsteht Synchronizität von innen und außen, von Kosmos und Psyche. C.G. Jung charakterisiert solche Zusammenhänge als „sinngemäße Gleichartigkeit in heterogenen, kausal nicht verbundenen Vorgängen.” Verbindet sich der analoge Prozess mit dem ausgeprägt spielerischen und poetischen Impulsen eines Hans Arp, entsteht eine unverwechselbare Zeichensprache.
Dass er die Zensur des Rationalen so weit nach hinten verlegte, um die spontane Assoziation des Unbewussten wirken zu lassen, bringt ihn in die Nähe der zeitgenössischen Surrealisten. Sie nannten diesen Vorgang, in dem das Unbewusste die Feder führt, „écriture automatique”. Doch die Ähnlichkeit ist eine äußerliche: Automatisch ist nicht lebendig, und Arps Verweis der Ratio auf den zweiten Platz ist nicht der Versuch ihrer Ausgrenzung. Gerade auf Ganzheit von Leben, nicht auf Abtrennung, zielt das Oeuvre des Künstlers. Das Ausatmen der Formen zur Bildwerdung ist der Hauch der lebendigen, umfassenden Natur, mit der sich Hans Arp eins fühlt, hinter der er sogar nach eigenen Aussagen in Anonymität zurücktreten möchte. Dem anonymen Unbewussten Vorschub zu leisten, ist nur eine Facette dieser Bescheidenheit.

„Configuration”
Aus dieser Beziehung zur Natur ist in der vorliegenden Reliefcollage das gemeinsame fließende Spiel der dunklen und der hellen Form entstanden. Es strömt aus oder mündet, je nach Lesart, aus der linken unteren Bildecke. Die dunkelblaue Bahn erreicht links oben den höchsten Punkt, kehrt in sehr spitzen Winkel um und gibt sich nach einer weichen, fast rechtwinkligen Kurve eine breit gelagert Basis. Die Ausbuchtung an der rechten, dunklen Innenkontur ist wie ein Scharnier, das die helle Innenfläche mit dem umfließenden Strom verbindet. Diese winklige Halbinsel lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei türkisfarbene, unregelmäßige Ovale in ihrer Nähe, die in der reliefhaften Staffelung der verwendeten Papiere das oberste Plateau einnehmen. Solche bewegten Eiformen sind zu Hause in der Arpschen Bilderwelt, wir begegnen ihnen immer wieder und sie erzählen jedes Mal von den wunderbaren Verwandlungen des naturhaften Sterbens und Werdens.
Beim Blick auf das Bild folgt unser Auge mühelos dem Verlauf der Formen, wird in weichen Wellenbewegungen über die Fläche geleitet, von nicht zu plötzlichen Bewegungswechseln und türkisfarbenen Überraschungen angenehm unterhalten und kehrt beruhigt und stabilisiert zurück.

Kongenial zur Natur
Sonderbarerweise scheinen wir bei diesem visuellen Spaziergang eine ungegenständliche Naturbegegnung auf dem Feld der Kunst zu erleben. Die ausspannende Figur ist zweifellos nicht aus Abstraktion von Naturformen zu verstehen, sondern aus dem Prinzip eines Schaffens, das sich als gleichgestellt und kongenial mit der Natur fühlt. Wenn der Künstler bildet ohne abbilden zu wollen, aber mit der Beigabe seines Geistes, ist die aus ihm fließende Form Naturform. Sie ist konkret, nur sich selbst und nichts mehr. „Wir wollen bilden wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbilden. Wir wollen unmittelbar nicht mittelbar bilden“, schreibt Arp.
Auf diese Weise entstehen unter seinen Händen klare, wellige Formen, die wie in der Natur zahlreich variierte Wiederholungen im Gesamtwerk erfahren. Die Einfachheit der Grundmotive ist einprägsam und die Vielfalt ihrer Veränderungen beeindruckend. Die Ökonomie der Natur gab die Strategie vor.
Arps Naturhaftigkeit verklärt nicht wie im 19. Jahr­hundert üblich. Trotzdem ist sie stark genug, sich gegen die Objekthaftigkeit des zeitgleichen Naturbegriffs in Wissenschaft und Technologie aufzulehnen. Die wissenschaftliche, rational begründete Unterwerfung der Natur ersetzt der Künstler durch ein Werk, das Ausdruck von Mit-der-Natur sein möchte.

„Nach dem Gesetz des Zufalls geordnet”
Durch diese Benennung eines Holzreliefs schlägt Hans Arp 1943 ein Leitmotiv seines Arbeitens an, den Zufall als „die unfassliche Ordnung, welche die Natur regiert.” Sein im Laufe des Lebens immer tiefer reichender Blick erkennt die Regelhaftigkeit des Zufalls auf dem Grund der Weltwerdung. „Zufall ist die Regel der Regeln” (Magritte 1959), die den Kosmos steuert, er überführt die Alltagserfahrung in einen übergeordneten Zusammenhang, in einen mystischen Vorstellungshorizont.
Mit dieser Sicht hatte sich Arp schon früh beschäftigt, als er in den Texten seines Strassburger Landsmanns Johannes Tauler aus dem 14. Jahrhundert las. Sie ließen Hans Arp und seine dadaistischen Freunde eine Befreiung zur kosmischen Verbundenheit erleben. Was regellos erschien, zeigte sich in Zugehörigkeit zu komplexen Ordnungen. Diese Auffassung bestätigte Arps intuitiven Glauben und damit den Ursprung seiner künstlerischen Imagination. Vice versa erzeugte die Kraft seiner Imagination das Bild von der Ordnung der chaotischen Zufälle. Unausweichlich wuchs so die Überzeugung, dass Chaos der schöpferische Urgrund des Werdens ist, dass in ihm alle Gegensätze vereint werden, so auch der Zufall mit der Regel.

Dieses innere Bild der Welt verband Hans Arp mit alten Weisheitslehren, trennte es aber vom zeitgenössischen, wissenschaftlichen Weltbild. In ihm scheinen die Ordnungen des Mikro- und Makrokosmos weitgehend bekannt, sie werden immer vollständiger erfasst und können somit manipulieret werden. Das Unvorhersehbare findet nicht statt in einem Weltentwurf, der keinen Platz für die Poesie des Zufalls und der Teilhabe an den Wahrheiten des Indeterminierten bietet. Selbst Albert Einstein konnte sich bekannterweise keinen Gott vorstellen, der würfelt.

Doch mit der digitalen Möglichkeit, eine unvorstellbare Menge an Daten von Naturvorgängen zu sammeln und mathematisch immer tiefer zu durchdringen, wird eine halsbrecherisch erscheinende Kehrtwendung im wissenschaftlichen Weltbild möglich. Die Bewegungsschleife führt vom determinierten Weltbild zum determinierten Chaos, das wieder ins determinierte Weltbild einmündet, dieses aber um Qualitäten der Offenheit und Potentialität bereichert.
Wobei die Metapher vom Würfeln sich in relativierter Weise als zutreffend für die Beziehung zwischen Zufall und Ordnung erweist. Aus größerer Distanz gewissermaßen und in Berücksichtigung möglicher Bedingungen wird im unregelmäßige Muster des Zufalls die Ordnung sichtbar, zeigt sich, wann der Würfel gewinnen kann.

Welt aus Chaos und Ordnung
In seinen letzten Lebensjahren fiel Hans Arp eine wissenschaftliche Bestätigung in den Schoß, die sein Bild der Natur, als „vom Gesetz des Zufalls geordnet”, unterstützte. Ob er sie beachtet hat, ist nicht bekannt. Die neue Theorie über das Universum jedenfalls verkündete, dass Zufallsereignisse einem determinierten Chaos zu verdanken sind (Ian Stewart). Chaos als Ausgangslage eines entstehenden Systems ist seit mythischen Urzeiten bekannt. Aber nun zeigt es seine ständig wirkende Präsens und Forscher versuchen, die Strukturen des Chaos als Theorie und computergeneriertes Bild zu vergegenwärtigen.
Bisher hatte das Auftreten von Unvorhergesehenem ohne erkennbare Gesetz- und Regelmäßigkeit die Forschung immer wieder an die Grenzen der erwarteten Determiniertheit gestoßen und ihre Aufmerksamkeit auf das Finden des Gesetzmäßigen reduktioniert. Die immensen mathematischen Kapazitäten der Computer eröffneten wissenschaftlichen Theorien und Vorstellungen, neue Räume und ein verändertes Verständnis davon, wie Ordnung in Chaos übergeht und Chaos in Ordnung.
Nun werden unerwartete Veränderungen als Verhaltensmuster komplexer Systeme erkennbar. Was die naturwissenschaftliche Beobachtung irritierte, verrät in der Zusammenschau differenzierte Zusammenhänge. Zufall bestimmt also so gut wie Gesetzlichkeit den Kosmos und enthält Regeln in der Regellosigkeit. Dies erfassen zu können, war der Entwicklung der Computertechnik in den Siebzigerjahren zu verdanken, sie gab dem Zufall ein neues Gesicht.
Die Variabilität und Kompliziertheit biologischer und physikalische Systeme ist nach Ansicht mancher Wissenschaftler dem Chaos wie dem regelmäßigen Muster gleich nahe. Das komplizierte Zusammenspiel von beiden lässt die Augen aufgehen für Strukturen, die Welt bilden.

In dieser Perspektive wird deutlich, was Hans Arp aufgrund nicht-wissenschaftlicher Erkenntnis längst vertrat, als er in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts über das „Gesetz des Zufalls” schreibt”, welches alle Gesetze in sich begreift und uns unfasslich ist wie der Urgrund, aus dem alles Leben steigt…”. Sein Weg, sich dem Urgrund zu nähern, ging über die Hingabe an das Unbewusste, der Weg der Naturwissenschaften ist ein anderer, aber mit einem ähnlichen Ergebnis als Quintessenz.