Das halbe Bild

Kann ein halbes Bild die ganze Wahrheit sein?angelo-custode-detail
Und was ist seine Wahrheit?
Die der Künstler, der Glauben, der Zeiten, – die, die Betrachter darin sehen?
Ein Betrachter, der mit der Schere in der Hand absichtsvoll ein großes Gemälde klein und einen Detail daraus groß macht, wie im Ausschnitt hier zu sehen ist.
So geschehen zum Glück nur im Abbild des Originalgemäldes von Carlo Dolci „Angelo Custode“ von 1675.

Ein Kind blickt über seine Schulter rückwärts nach unten zu zwei Tulpen, die im Erdboden fest verwurzelt ihre Blüten auf gebogenen Stielen tanzen lassen.
Ernsthaft und wie gefangen genommen ist der kindliche Blick. Mit Schwung dreht sich der Körper des Jungen dem farbigen Glanz der Tulpen zu.
Deren Wahrheit ist eine halbe, sie verraten nicht ihren Standort: Ihre Schönheit wächst am Rande des Verderbens. Das Kind blickt in einen verdeckt gehaltenen Abgrund.
Mit ruhigem Gesicht, seine Augen fokussiert, aber nicht schreckgeweitet, sein Mund entspannt geschwungen, nicht zum Schrei geöffnet. Ist es die Zaubermacht der Schönheit, die wirkt und die Angst vor dem Sturz vergessen lässt? Oder hält der Junge sich für unverletzlich und geborgen? Woher die Gelassenheit über einem Absturz hängend?

Die Antwort liegt in der anderen Hälfte des Bildes, der unsichtbaren, die – die der Schere zum Opfer fiel. Hätte der Maler ihn doch von vornherein unsichtbar gelassen, diesen heran rauschende Schutzengel in elegant-barocken Römersandalen, unerklärlichen Gewand- und Körperwindungen und einem Blick, der mehr dem Bildbetrachter gilt als dem Kind in Not.
Doch immerhin der Engel wird angetrieben durch das Vertrauen, durch die Zuversicht des Kindes in seine Rettung.

Das wäre also die ganze Wahrheit, die Carlo Dolci seinen gläubigen Betrachtern mit dem ganzen Bild mitteilen wollte: Verzage nicht, dein Schutzengel hilft.
Was bleibt davon jenen, die nicht an Schutzengel glauben?
Sie kommen durch das halbe Bild in den Genuss von Wahrheit. Sie kann sein die Schönheit, die den Abgrund über dem sie blüht, vergessen lässt. Sie kann sein die Einsicht, dass helfende Kräfte sich nicht personifizieren müssen, sondern unsichtbar in und um uns wirken dürfen.
Aber Wahrheit, selbst halbe, ist nicht billig zu haben. Sie verlangt Vertrauen, besser noch: Ahnung. Die ahnende Zuversicht, es könnte wahr sein, dass in der Kraft des Nicht-sichtbaren das Bewahren des Lebens liegt.
Das ist die ganze Wahrheit des halben Bildes vom „Angelo Custode“.

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