Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 2 – Julius Bissier

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen von fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

RAUM-ENTWÜRFE

Julius Bissier     

Rheinfähre,  Öl auf Leinwand, 1928

Von Raum zu Raum
Wir schauen wie durch ein Fenster auf eine Rheinlandschaft in Basel, gemalt 1928 von Julius Bissier. Unser Blick geht über die Steine an der unteren Bildkante, entlang der Boote überquert er den breiten Fluss und prallt ab an der Bogenbrücke. Trotz dieser Begrenzung bleibt die Vorstellung möglich, hinter der Brücke vorbei an immer kleiner werdenden Häusern weiterzugehen. Schritt für Schritt werden wir hineingeführt in einen dreidimensionalen Raum unter einem weiten Himmel, der nur Illusion ist, denn wir bleiben doch vor der flachen, zweidimensionalen, bemalten Leinwand stehen.
Uns auf diese Weise in die Welt schauen lassen, darum haben sich die Künstler vergangener Zeiten außerordentlich bemüht, sie wollten virtuellen Räume auf ihren zweidimensionalen Malflächen entstehen lassen. Aber die Kunst des 20. Jahrhunderts begann mit dieser virtuosen perspektivischen Tradition zu brechen, sie war vielen Malern als Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeit unwichtig geworden. Warum das so ist, wird verständlich, wenn wir uns einige der verschiedenen Konzepte von Raum anschauen, die bis zu dieser Zeit entstanden waren und nachspüren, was sie für das Lebensgefühl der Menschen bedeuteten. Auch für Julius Bissier war die „Rheinfähre“ eines der letzten größeren Bilder, die er in perspektivischen Sicht malte.

Revolution im Bildraum
Es stellt sich die Frage, welche die ersten Bilder waren, die den Blick des Betrachters in Innenäume hinein oder in Landschaften hinaus führten?  Welche Vorfahren hatte Bissiers Rheinpanorama?
Vor siebenhundert Jahren hätte es keinen Maler interessiert, eine solche räumliche Landschaft seinen Zeitgenossen hinzuzaubern. Stattdessen wäre die gemalte Bläue des Himmels belebt gewesen, mit einer Darstellung Gottes, mit Heiligen und Engeln. Ihnen gebührte himmelblauen oder goldfarbigen Anstrich der Hintergrundsfläche, aber keinen Dingen wie Steine und Wasserfahrzeuge. Gottes Reich befand sich außerhalb dessen, was der Mensch um sich wahrnahm. Sein Raum war ein Himmel, der nichts mit dem sichtbaren Himmel zu tun hatte. Auf diesen imaginären Raum richteten sich die Menschen aus und in ihrer Vorstellung richteten sie ihn sich auch ein. Sie lebten in einem „spirituellen und einem physikalischen Universum“, wie Margaret Wertheim sagt. Und der irdische, physikalische Bereich fing gerade erst an, sie in seinen Bann zu ziehen.

Im Jahre 1305 erscheint auf der Wand einer Kapelle in Padua eine Freskenserie, von Giotto gemalt, auf der sich religiöse Szenen in häuslicher und landschaftlicher Ambiente abspielen. Das ist in der damaligen Zeit ungewohnt: Der Verkündigungsengel und die Madonna begegnen sich hinter gerafften Vorhängen, in der Raumtiefe sind Kanten des Mobilars erkennbar; Tierherden weiden auf dünn bewachsenen Berghängen während der Joachim des alten Testaments vor seiner Hütte träumt.
Diese Darstellungen waren außerordentlich, indem sie den Blick auf den diesseitigen dreidimensionalen Lebensraum lenken und zudem auf die Räumlichkeit der Dinge in ihm. Deren Plastizität modelliert sich aus Licht und Schatten.
Das Problem, Räumlichkeit auf einer Fläche überzeugend wiederzugeben, werden die Maler hundert Jahre später gelöst haben, indem sie das betrachtende Auge zum Maßstab der räumlichen Darstellung machen. Im „Augpunkt“ oder Fluchtpunkt auf der Bildfläche laufen alle Linien zusammen. Die uns heute selbstverständliche Zentralperspektive ist geboren.

Julius Bissier benutzt sie in recht versteckter Weise, indem er den Fluchtpunkt sehr weit rechts an die Bildkante legt. In ihm laufen die Sichtlinien der beiden Rheinufer zusammen. Damit verkürzt sich die Führung in den Raum entgegen der eigentlichen Absicht der Perspektive, seine Tiefe zu suggerieren Es verstärkt sich der Eindruck von Eingeschlossenheit, der schon durch die horizontal, verlaufende Steinbrücke entstanden ist.

Maler als Wegbereiter der Wissenschaft
Die Zentralperspektive ermöglicht dem Maler einerseits Nachahmung wirklicher Räume, und andererseits eröffnet sie eine Methode, den Raum und seinen Inhalte zu ordnen. Letzteres bedeutet Arbeit an einem Weltbild, wenn wir Raum auch als Lebens- und Zeitraum verstehen. Im perspektivischen System steht der Mensch an zentraler Stelle. Sein Blick auf die Objekte bestimmt deren Wertigkeit. Die dazu notwendige Überlegenheit distanzieren Künstler und Rezipienten von dem, was sie betrachten. Sie inszenieren und platzieren es nach ihrem Ermessen, unter Verwendung von Zahlen und Konstruktionen. Hier beginnen einige Grundzüge unserer heutigen Denkweisen.
Für die praktische Anwendung erarbeiteten bedeutende Maler und Architekten mathematische und geometrische Prinzipien, die die Zentralperspektive zu einem perfekten Regelwerk machten. Sie konzipierten ein symbolisches System, mit dem sie Bildräume in rational fassbaren Ordnungen der Geometrie gestalten konnten. Auf solche Weise wurden von Künstlern die Ordnungen vorbereitet, die Physiker und Astronomen in den folgenden Jahrhunderten für den kosmischen Raum entwickeln werden. Selten berührten sich Naturwissenschaft und Kunst so unmittelbar als in den Konzeptionen von Räumen. Die optischen Gesetzmäßigkeiten des räumlichen Sehens in der Bilddarstellung wurden wie die Bahnen der Gestirne im Weltall mit geometrischen Systemen beschrieben.
Damit wurde der transzendentale Raum des Himmels zu einem ausschließlich physikalisch konzipierten Universum und zu einem Betätigungsfeld für den Wissensdrang der wissenschaftlichen Forschung. Jedoch die spirituellen Bedürfnisse des Menschen nach dem Unbeschreiblichen leben in anderen Räumen, die, wie wir sehen werden, auch Julius Bissier aufsuchte.

Kosmologische Revolution
Dieser physikalische Entwurf des Universums erhielt gerade in dem Jahr, in dem die Stadt-und Flusslandschaft von Bissier gemalt wurde, 1928, einen Aufmerksamkeit erregenden neuen Impuls. Edwin Hubble gelang mit seinem Riesenteleskop die Entdeckung, dass der Weltraum sich mit großer Dynamik unaufhörlich nach allen Seiten ausdehnt. Die beunruhigende Beobachtung ersetzte einen statischen durch einen bewegten Weltraum. Damit war die Vorstellung Newtons von einem absoluten, unveränderlichen Weltraum vom Tisch. Albert Einstein folgte auf mathematischen Wegen den auseinander fliegenden Galaxien und bestätigte ihre expandierende Bewegung, die er als Theorie schon vorausgesagt hatte. Aus ihr ergab sich der Schluss auf einen explosionsartigen Urknall als Beginn der Expansion. Der Weltraum selbst war nicht mehr nur Bühne von Geschehnissen, sondern aktiver Mitgestalter, durchpulst von Strömungen und Dynamiken.
Für die daraus entstehenden Konsequenzen findet Albert Einstein in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den mathematischen Ausdruck in der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie. In ihren umwälzenden Aussagen verändern sich die bisherigen Vorstellungen von Raum und Zeit zugunsten eines dynamischen Zusammenhangs. Dieser ist Voraussetzung für eine neue Formel von Masse und Energie. Auch die Masse eines bewegten Körpers ist nicht mehr konstant, sondern wächst mit zunehmender Geschwindigkeit. Raum und Zeit sind verknüpft sowie Masse und Energie. Ihre unterschiedlichen Bezeichnungen entsprechen nur vorübergehenden Erscheinungsformendes des Einen. Bewegung und Zusammenhang sind den Kosmos bestimmende Prinzipien.
Die Physiker fingen an, eine neue Schöpfungsgeschichte zu schreiben, die nachdenklichen Menschen, je nach Veranlagung, ein Gefühl der Instabilität vermitteln konnte und den Wunsch nach ruhigen Zentren.

Entwicklungsräume
Julius Bissier war ein solch nachdenklicher Mensch und den wechselhaften Einflüssen einer unruhigen Zeit ausgesetzt. Diese Konditionen gestalten mit an seinem Werk.
Vor der Datierung des betrachteten Bildes lag der letzte Weltkrieg nur zehn Jahre zurück, die politischen Versuche der Weimarer Republik scheiterten und der kommende Nationalsozialismus begann sich abzuzeichnen. Aus existenzieller und geistiger Enge seines Elternhauses in Freiburg kommend, konnte die ungewöhnliche künstlerische und geistige Begabung Julius Bissiers sich nur langsam, von vielen Selbstzweifeln geplagt, schrittweise verwirklichen. Wobei die Schrittfolgen im Prozess der ständigen Infragestellung seiner selbst unterschiedliche Richtungen einnahmen.
Nach dem er in jungen Jahren versuchte, die spirituellen Himmelsräume noch einmal in der Darstellung mystischer Themen in seine Zeit zurückzuholen, fühlte er sich durch die Freundschaft mit einem Sinologen zur chinesischen Malerei hingezogen. Vor allem prägten ihn Formen östlicher Philosophie und Weltschau, die zu späterem Zeitpunkt in veränderter Weise sich wieder zeigen sollten. Doch davor liegt eine bewusste Hin­wendung zur stillen und statischen Malweise, die auf nüchterne Objektivität zielte und damit Ähnliches beabsichtigte wie die Maler der so genannten Neuen Sachlichkeit.

In dieser Schaffensphase ist die „Rheinfähre“ entstanden. Die Bewegungslosigkeit des Wassers, die Menschenleere und das dominierende kalte Grünblau ergeben einen Eindruck von Leblosigleit und Starre, der erschauern lässt. Die kühle Atmosphäre ist nach Selbstzeugnissen Julius Bissiers nicht nur Ergebnis einer gewollten künstlerischen Distanziertheit: “…..es entstand eine abstraktes Landschaftsgefüge blecherner Härte, und eines Tags empfand ich plötzlich, dass ich totgelaufen, seelisch verschüttet vor lauter Wille und in eine Sackgasse gerannt war.“ Das Eingeschlossensein, wie wir schon eingangs sahen, teilt sich überzeugend mit in der eigentümlichen Perspektive der Flusslandschaft, die keinen offenen Horizont zeigt. Die Bedrückung steigt durch die Beleuchtung, wie unmittelbar vor einem Gewitter, zwischen Grellheit und verdunkelnder Bedrohung.
Die von Bissier schriftlich und malerisch als depressiv charakterisierte Lebensphase erhält später wieder Ausrichtung durch die endlich errungene Freiheit, sich auf die ungegenständliche Malweise seiner künstlerischen Zeitgenossen einzulassen und in ihr seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln (Freundschaft mit Willi Baumeister) Damit endete der als Kampf empfundene „Dualismus zwischen Bildgesetz und Natur­gestaltung“ (Bissier). Die Gegenstandslosigkeit erlaubt, sich der Autonomie von Form und Farbe als Kern künstlerischen Gestaltens zu widmen. Nicht die Natur war abzubilden, sondern die eigene Formenwelt des Künstlers. Bissier fühlte sich auf neue Weise zum Wesentlichen befreit, nach dem er in den gegenständlichen Gemälden durch nüchtern-objektive Darstellungsweise schon getastet hatte.
Innerlich gespürte Notwendigkeit zum Wesentlichen war das, was die besten der gegenstandslosen Maler zum Bruch mit den traditionellen Malweisen trieb, zur Aufgabe des Gegenstands und damit der perspektivischen Darstellung.

Rückgewinn des spirituellen Raums
Die weiteren Bilder Bissiers sind gegenstandslose Tuschen, Aquarelle und Tempera-gemälde, die mit sensibler Einfachheit und Klarheit beeindrucken. Sie steigen auf aus der Versenkung in innere Räume, in die sich der Künstler meditativ zurückzog. Im Verschließen der Augen vor den äußeren Räumen fand er seine inneren, in denen er sich verbunden fühlte mit dem Universum. Sein frühes Eindringen in die östliche Gedankenwelt des Zen wurde individuell fruchtbar und ließ ein Werk entstehen, das in den letzten Lebensjahren große internationale Anerkennung erreichte. Vielleicht, weil es den gelungenen Dialog enthält zwischen dem persönlichen Zentrum und den universalen Räumen, in denen sich spirituelle und materielle Einheiten verbinden.