Gertraud Salamon „Im Hain Mamre“

Gestaltungsmaterialen, elementar und archaisch, unmittelbar korrespondierend mit den persönlichen Erfahrungen von Gewinn und Verlust existenzieller Grundbedingungen der über siebzigjährigen Künstlerin.

Zur Vernissage der Ausstellung am 7.März 2004
im Kunstverein Schallstadt

Liebe Gäste des Kunstvereins Schallstadt,

ich freue mich über Ihr Interesse an der Ausstellung von Gertraud Salamon
und danke dafür, hier zu sprechen zu dürfen. Es ist mir einen Freude, denn mein Mann und ich kennen und schätzen die Künstlerin seit vielen Jahren. So fühle ich mich sehr motiviert, aus den Erfahrungen dieser Kontakte Ihrer Begegnung, liebe Gäste, mit Gertraud Salamon und ihrem Werk einige Aspekte hinzuzufügen.

„Mich erschreckt der verlassene Tisch auf dem vielleicht noch die Kaffeetasse steht, ein Einkaufszettel liegt oder ein angebissenes Marmeladenbrot…..“ schreibt Frau Salamon in ihren gelegentlichen Aufzeichnungen.
Wir fragen uns, welche Erfahrungen hat ein Mensch, den diese Alltagssituation erschrecken kann?
Was ist ein Tisch mehr als ein Tisch?
Auf dem Tisch hier steht ein Wasserkrug und liegt ein Stein als Brot, die existenziellen Grundbedürfnisse, aber nur diese, scheinen an dem Tisch gestillt worden zu sein – oder doch nicht?
Wer bildete die Tischgemeinschaft? Sie ist aufgelöst, die Geborgenheit in der Gemeinschaft unter einem Dach ist vergangen, die umgebenden schützenden Mauern sind aus dem Lot, jeder ging seiner Wege.
Das bezeichnet eine Art von Verlusten, die nicht durch das Recht auf Individualisierung, auf eigenes Leben entstehen, sondern durch Gewalteinwirkung: „Soldaten, Umsiedler, Ausgebombte, Flüchtlinge, Kriegsmaterialien“, zählt Gertraud Salamon auf als ständig wiederkehrende Eindrücke jener zurückliegenden Jahre. Alle, die zeitlich und örtlich da hineingeboren wurden, sind ihnen ausgeliefert, auch wenn sie sich nicht die Frage nach den Ursachen dieser Lebensbedingungen traten. Ein solcher Mensch ist Gertraud Salamon:
Sie ist 1923 in Nordböhmen geboren.

Viele Jahrzehnte später wird die Künstlerin G. Salamon zu Gestaltungsmaterialen greifen, wie Tonerde, gefundene und gebrauchte Hölzer, die elementar und archaisch sind. Sie korrespondieren mit ihren unmittelbaren, persönlichen Erfahrungen von Gewinn und Verlust existenzieller Grundbedingungen.

Elementare Holzlatten dienten Gertraud Salamon allerdings auch als Untergrund für günstige Lebensentwicklungen: 1940 im Luftschutzkeller des Kindergärtnerinnen-Seminars in Eisenach, da saß sie auf den Kanten der Bretter einer Kartoffelkiste. Die Seminarleiterin schaute sich das ständige Zeichnen Gertrauds während der Fliegeralarme einmal genauer an. Was sie sah, überzeugte sie G.S. anzumelden an der Hochschule für Baukunst und Bildende Kunst in Weimar, wo sie sofort zum Studium zugelassen wurde. Mit großer Begeisterung äußert sich G.S. noch heute über diese Zeit: „Wie in einer wunderbaren, farbigen Seifenblase, die hoffentlich nie platzen würde“.

Rechts in der Nische steht eine Installation von 1992, die sich „Im Hain Mamre“ nennt. Ich denke, dass diese drei Semester Kunststudium 1943/44 am ehemaligen Bauhaus in Weimar Gertraud Salamons persönlicher „Hain Mamre“ waren. Was ist damit gemeint?

Im Hain Mamre aus schattenspendenden Terebinthenbäumen, war es, wo Abraham in der Mittagshitze vor der Zeltöffnung saß, wie im 1. Buch Moses (18.Kap.) des Alten Testaments erzählt wird, und Besuch von drei Männern erhielt. Er empfängt und bewirtet sie respektvoll, denn er erkennt in ihnen Gott den Herrn begleitet von zwei Engeln. In dieser Begegnung vor seinem Zelt erfährt Abraham nicht nur eine Prophezeiung, sondern auch die Entgrenzung des Alltäglichen und seine eigene Begabung zur visionären Schau. Dem greisen Abraham und seiner hochbetagten Frau Sara wird vom Herrn vorausgesagt, dass sie noch ein Kind zusammen haben werden, worauf besonders Sara mit einiger Skepsis reagiert, genauer gesagt, sie lacht darüber, – doch die Prophezeiung tritt ein: Isaak.

Schrauben wir die Geschichte von ihrem biblischen Anspruch herunter auf die Gewindehöhe des Menschlichen, so könnte gesagt werden, dass die zwanzigjährige G. S. an der Kunstschule in Weimar ihr eigene Begabung zur künstlerischen Schau erkannte, ihre besondere Fähigkeit zum Sehen und Gestalten, zum Wahrnehmen dessen, was substanziell ist.
Das Leben wird G.S. nicht immer erlauben, diesen künstlerischen Fähigkeiten zu folgen. Sie sind – wie es bei einem fließenden Wasser sein kann ­– öfter von krustiger Erde überdeckt und treten doch immer wieder zu Tage.

Die Seifenblase platzt, anderthalb glückliche Jahre in Weimar brechen ab: 1944 studentischer Kriegseinsatz auf einem Bauernhof, 1945 Fremdarbeiterin in einem tschechischen Dorf.
Die Familie flüchtet in den Westen, trotz allgemeiner Not kann G.S. nach einer Aufnahmeprüfung ihr Kunststudium 1949 in der Bildhauerklasse der Nürnberger Kunstakademie für fünf Semester fortsetzen. Ihre künstlerische Quelle darf sprudeln, Zeichnungen und figurative Skulpturen aus Holz und Ton entstehen.

Doch der Wert des beglückenden Erlebens eigener Begabung und eigener Präferenzen beginnt sich in Gertraud Salamons Augen zu relativieren. Zumal ein Umfeld auf sie einwirkt, das ihr soziales Engagement als den größeren Wert nahelegt. Sie gibt jede künstlerische Tätigkeit auf, ihre künstlerische Begabung bleibt für  zweiundzwanzig lange Jahre verdeckt wie unter einer dicken Erdschicht. G.S. ist – erst ohne, dann mit Fachausbildung ­– in verschiedenen sozialen Arbeitsfeldern mit hohen Anforderungen tätig.

Mit ihrem Mann zieht sie nach Freiburg und nimmt hier 1971 einen Lehrauftrag an der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik an. Als Vermittlerin des Fachs Bildnerisches Gestalten ist es G.S. wieder möglich, wie sie von sich selbst sagt, ihre „ganze aufgestaute Liebe zur Kunst“ weiterzugeben. Diese Qualität spüren und schätzen ihre Schüler und Schülerinnen. Leise kommt das verdeckte künstlerische Lebenswasser wieder an die Oberfläche.
Mit der Pensionierung 1985 strömt es wieder stärker und G.S. beginnt mit der eigenen künstlerischen Tätigkeit. Deren Auseinandersetzungen und Ergebnisse betrachtet sie selbstkritisch und führen sie zu dem ungewöhnlichen Entschluss, als Vierundsechzigjährige ein drittes Kunststudium zu beginnen. Acht Semester insgesamt wird sie an der Freien Hochschule in Haslach und im Experimentellen Atelier Freiburg bei Raul Bustamante und Nelson Leiva studieren.

1990 geht ein Traum in Erfüllung: ein eigenes Altelier – in der Kirchstraße, das jedem Besucher bis heute den Blick in eine besondere Welt schenkt. Ein Arsenal, in dem sich das Naturhafte, Urtürmliche trifft mit dem Gestalteten, Geglätteten, wo das Gewicht von Fund- und Lattenholz, Blechen und Rohren sich zurücknimmt gegenüber der Dynamik von Linien auf hellem Papier, wo der graubraune Farbton der alten Holzwände, die das Gesammelte und Gelagerte umschließen, gelegentlich von leuchtend farbigen Rechtecken der Malerei durchbrochen wird.

1992 wird Gertraud Salamon Mitglied des BBK und der GEDOK, die Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstförderer, und ist seitdem an allen Gruppenausstellungen der GEDOK in Freiburg beteiligt, zusätzlich zeigt sie ihre Arbeiten auch an anderen Ausstellungsplätzen, ebenso in verschiedenen Einzelaustellungen, wovon mir die erste 1995 hier im Kunstverein Schallstadt in besonders guter Erinnerung ist.

Gertraud Salamon profilierte sich mit einer speziellen Art von Installationen und Objekten aus „armen Materialien“, gefundenen Materialien, die sie Anordnungen und Bearbeitungen unterzieht. Im „Turm“ hier sehen sie zum Beispiel eine Arbeit, die das Geschenk von 258 verstaubten, angerosteten Blechkästen als Ausgangsmaterial hat.
Das gebrauchte Holz, Metall oder Zeitungspapier, das schon durch andere Hände gegangen war oder aus ihnen geschenkt wurde, die von Naturkräften vorgeformten Steine und Hölzer verbinden G.S. greifbar mit ihrem Umfeld, bilden ein Zuhause.
Wie ja auch das Thema „Haus“ unübersehbar vorherrschend ist: Als Turm unverrückbar stehend, mit Steinen beschwert stabil am Boden fixiert, auf irrwitzigen Leitern nach oben steigend oder menschliches Schicksal erleidend, indem es schrittweise in gezeichnete Katastrophen äußerer oder innerer Art untergeht. Aber die plastische oder gezeichnete Form selbst ist nie fragil, sonder kompakt und belastbar.
Diese Häuser sind ein Kürzel in Gertraud Salamons Sprache, existenzielle Grundsituationen menschlichen Lebens in prägnanter visueller Form darzustellen. Sie berühren wie alle Objekte des künstlerischen Werkes von G.S. auf ästhetischem Weg den Betrachter in seinem eigenen Wissen um Lebensformen und Lebens­bedingungen, wie Eingeschlossensein, Hervortreten, Bedrohtsein und Geborgenheit. Dieser realistische Zug ist geformt von einer unbeirrbaren Ehrlichkeit, die fern ist von jeder Spekulation auf preiswerte Emotionen.

Aber neben dem konsequenten Ernst, mit dem diese Themen erfahren und ausgedrückt werden, ist da auch ein Vergnügen an ästhetischen Spielen, –
„an Experimenten frei und risikobeladen“ wie Gertraud Salamons sie nennt – die sie schon immer praktizierte, mit wachsendem Alter häufiger. Die Freude der tastenden Hand und des genießenden Auges an der prallen Form, an der glatten, überspannenden Oberfläche einer Frucht oder eines Tierkörpers treten zu Tage. G.S. sagt es so: „Glück ist, eine Form zu erfassen, bis innen hinein zu spüren“. An den  Vogel- oder Hühnerformen einiger Arbeiten hier ist diese haptische Erfahrung nachvollziehbar. Die Verbindung der Vogelform zu Leitern, Koffern, Kästen hat zudem durchaus einen selbstironisierenden Akzent, dem man in zahlreichen Elementen der gezeichneten Serien ebenfalls begegnen kann.

Der unverstellte ehrliche Blick auf sich selbst offenbart sich jedoch am deutlichsten in der Plastik „Ich einfach so“ genannt, bei der über ein Gerüst aus Holz und Draht eine unendliche Zahl von Zeitungspapierschichten aufgeleimt wurde. G.S. beschreibt den Arbeitsprozess: „Ich habe mich wochenlang gefangen mit klebrigen Papierfetzen, Stück um Stück und mich täglich versucht zur Wahrheit zurückzuholen, was nicht einfach war, weil der Spiegel jeden Tag etwas anderes erzählt“.
Ein kontinuierliches Bemühen, um „eine Sprache ohne Unwahrheit und ohne Behauptung“, beschäftigt G.S und läßt sie aufhorchen, wenn ein Musiker im Rundfunk­interview auf diese Weise seine kompositorischen Absichten formuliert.

Überhaupt ist G.S. das Hören wichtig, wobei nicht nur Musik, inklusive das tastende Hineinhören in zeitgenössische Musik, gemeint ist, sondern paradoxerweise das Hören der Stille. Letztere ist Voraussetzung für die Arbeitsatmosphäre im Atelier und wird auch als Gewinn zahlreicher, einsamer Schwarzwald-Wanderungen in die Arbeit getragen – zusammen mit der gewichtigen Stille von gesammelten Steinen. Gemalt als „Steinporträts“ behalten sie ihr Volumen und ihre subtilen Farbabstufungen auch auf der zweidimensionalen Fläche.
Mit der Verwendung von Malerei und Zeichnung als künstlerische Medien, beginnen in den letzten drei Jahren erneut veränderte Schwerpunkte im Oeuvre von G.S. Zwar gingen Entwurfszeichnungen selbst ihren Materialarbeiten voraus. Aber nun verlässt sie die Materialien, deren jeweilige Gebrauchs-Geschichte den gestalterischen Akt mitbestimmte und wagt sich auf das offene Feld der weißen Leinwand und des neutralen Papiers.

Ein tiefes Bedürfnis nach Farbe treibt G.S. an, speziell nach einem „glücklichen Rot“, das sie in der Kindheit schon kannte und nun auf einem Gemälde von Pieter Bruegel aus dem 16.Jahrhundert sich ihr geradezu entgegenwirft. Sie muss es aufgreifen und nachvollziehen, wie auch andere Farben Bruegels, in der kleinen, gemalten Zitatensammlung. Der Farbwunsch verselbstständigt sich in weiteren Farbtafeln, auch die Farbskala der bisher verwendeten Materialien, das Braun, klingt noch einmal auf. Der dominante Eindruck geht aber von den leuchtenden Farben aus, die die Intensität eines inneren Bedürfnisses signalisieren, das zielstrebig den Umgang mit der Farbe gelingen läßt. Gleichzeitig diszipliniert die strenge Anordnung die Farben zu klarer Überschaubarkeit, fern einer überbordenden Geste.

Die Reihung zeigt sich ohnehin als bevorzugte Anordungsform der bildnerischen Elemente. Sie vermittelt eine Klarheit, die im Zusammenhang mit der schon erwähnten Ehrlichkeit gesehen werden kann; verdeckende und verbergende Überschneidungen bleiben vermieden.

In einer gemalten und vielen gezeichneten Serien bricht die Geschichtenerzählerin G.S. durch, die in Sequenzen von „Land unter“ und „Grundwasser“ erzählt, von Menschen am Wasser und im Sturm, auch von Bäumen. Manchmal ist der Ton märchenhaft illustrativ, oft leicht ironisch-melancholisch und manchmal auf so ansprechende Weise bedrohlich, dass er dem Betrachter den Boden unter den Füßen wegzuziehen beginnt
Immer aber sind die Zeichnungen in feinsten Nuancen eines Hell-Dunkel-Spiels angelegt. Die Kunst der Übergänge von einem zum andern zeigt sehr überzeugend die Serie von der Wolke, deren Teile wahre Wolken-Physiognomien bilden.

Eine Gruppe von Zeichnungen hat eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. In der rasterartigen Anordnung der gezeichneten Felder auf einem Blatt ähneln sie anderen Arbeiten. Aber sie entstehen am Tagesende zwischen Wachen und Schlafen, wenn G.S. nur noch bei sich selbst ist und versucht, sich frei zu halten von eigenen eingefahrenen professionellen Ansprüchen und Routinen. Der Fluss der Feder­striche wird einfach zugelassen, wächst absichtslos aus abendlicher Sensibilität für Qualitäten von Strömen, Netzen, Kaskaden, Überlagerungen, Verdichtungen, Aufhellungen von nichts als Linien. Die bewußte Wahl eines rauhen Zeichenpapiers zwingt zu Langsamkeit der Federführung, zu Sorgfalt und Ausdauer. Bei vielen der Linienfelder klingt das Echo einer Musik mit, die Gertraud Salamon im Radio beim Zeichnen nicht nur hört, sondern aufnimmt in die zeichnende Hand als Bewegungsschreiber der inneren Schwingung.

Wie hieß die Verheißung an Sara in der Geschichte, die vom Hain Mamre erzählt hatte? Sara wird fruchtbar sein im hohen Alter. – Ich denke, das trifft auch für Gertraud Salamon zu.