Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 3 – Lothar Quinte

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen von fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

QUANTENTHEORIE UND LOTHAR QUINTE

Lothar Quinte

Weißlasur über Farbe, 1977
Eiöl auf Leinwand, 180 x 91 cm

Versteckte Farben
Blicke, die sich ausrichten auf das Gemälde, landen auf der Oberfläche, sinken kurz ein und lagern sich ab in die milchigweiße, weiche Haut des Gegenübers. Die körperhohe Fläche scheint sich dem Betrachter leicht entgegen zu wölben, obwohl sie nur unperspektivisch zweidimensional ist. Über dem Bildgrund hängt wie ein Vorhang weiße Lasur. Sie verbirgt einen unbetretbaren Farbraum, der mehr zu ahnen als wahrzunehmen ist. Unser eindringender Blick bleibt im Unbetimmten stecken. Wir sind außerhalb des Bildinnenraums, wären wir darin, sprängen uns unvermischte Spektralfarben ungehindert an. Sie sind mit breitem Pinsel in senkrechten Bahnen über die Leinwand gezogen, lassen die Ränder rechts und links frei und wurden mit noch breiterem Pinsel gleichmäßig weiß überstrichen, nur schwach leuchten sie durch den Überzug.
Ungebrochen sind die Ansätze von Rot, Gelb, Blau und Mischtönen oben und unten auf der schmalen hohen Bildfläche zu sehen. Zwischen Start und Ziel tauchen die Farben ab unter die milchige Membran, wo ihre Bahnen nur unbestimmt zu orten sind. Sie verschmelzen fast mit dem gleichmäßig fließenden Weiß über ihnen.

Im alltäglichen Umgang erscheint Weiß neutral und offen, es ist die charakteristische Farbe ohne Eigenschaften. Ohne Buntheit und Profil wähnen wir sie bestens geeignet, zu verbergen und verschwinden zu lassen. Ein Versteck, der sich wie bedeutungslos gibt und die vitale Kraft leuchtender Farben bricht.
Die erwähnte Leere des Weiß ist physikalisch gesehen allerdings eine gründliche Fehlein­schätzung, da das neutrale, gehaltlos erscheinende Weiß sich in der Spektralanalyse als besonders gehaltvoll zeigt. Es ist die Bündelung aller Farben, die Lichtwellen erzeugen. Wird ein weißer Lichtstrahl durch ein Prisma geleitet, betritt er es weiß und verlässt es aufgefächert in sämtliche Farben des sichtbaren Spektrums von rot bis violett
Diese wunderbare Verwandlung hatte zwar im 17. Jahrhundert schon der große Physiker Isaac Newton beobachtet, aber im 20. Jahrhundert wollten die Physiker mehr wissen über Wellenlängen, Geschwindigkeiten und Temperaturen von Licht.

Lichtschwingungen
Was nicht unbedingt heißen muss, dass sich auch der Maler dieses Bildes dafür interessierte. Aber aus biographischen Angaben ist zu erfahren, dass Lothar Quinte tatsächlich fasziniert war von Licht, fasziniert von den Möglichkeiten mit Licht zu gestalten. Obwohl Schattenspiele und Kirchenfenster eine Nebenrolle hatten, brachten sie ihn doch in künstlerische Auseinandersetzung mit den Gesetzen, nach denen sich Lichtstrahlen verhalten.
In der Malerei ist Licht Quintes zentrales Thema. Lichtwellen erzeugen Schwingungen, die wir als Farben wahrnehmen. Und um das Erlebnis dieser Farben auf der Bildfläche ging es Lothar Quinte und um sonst nichts. Seine Farbe ist nicht eingegossen in gegenständliche Formen, sie ist befreit von erzählenden oder appellierenden Inhalten. „An der Malerei interessiert mich einzig und allein das optische Ereignis“, sagt Quinte. Er vertraut, dass die physikalisch beschreibbaren Lichtschwingungen, die von der Farbmaterie auf der Leinwand ausgehen, zu psychischen Schwingungen im Betrachter werden. Farbe ist für ihn die Möglichkeit, Licht zu erleben.

Scharfe Gegensätze
Auf verschiedenen Gemälden von Lothar Quinte ist der reine, weiße Lichtstrahl selbst dargestellt. Mit schneidend scharfen Kanten fährt er über farbige Flächen. Er erinnert an die sensationellen Aufnahmen von Laserstrahlen, die anfangs der Sechzigerjahren durch die Medien gingen. Darauf war extrem gebündeltes, potenziertes Licht zu sehen, dessen technische Verwendung in allen Lebensbereichen Neuerungen und Verbesserungen ermöglichte (Computer, CD, Chirurgie). Der erstaunliche und vielseitige Gebrauchswert des künstlich verstärkten Lichts ließ im Bewusstsein der Öffentlichkeit einen neuen Aspekt der alten Lichtmythen anklingen.

Doch mit ihnen wollte sich Lothar Quinte nicht in Verbindung sehen. In deutlicher Abgrenzung lässt er wissen, dass er keine über Licht und Farbe hinausgehenden Bildinhalte beabsichtige. Zwar gehören Licht und Farbe zum Zentrum der malerischen Tradition, jedoch in Verbindung zu gegenständlichen Inhalten. Erst im 20. Jahrhundert wird isolierte Farbe zum autonomen Bildinhalt in der monochromen Malerei, wie sie auch Quinte ausübt. Der Vorgang erinnert an wissenschaftliche Forschungsmethoden, die das Einzelne untersuchen und seine Komplexität sowohl für sich wie im Bezug zum Gesamten erschließen.
Trotz der Negierung von Sinnbildlichkeit seiner künstlerischen Arbeit, werden Gemälde Lothar Quintes von vielen Betrachtern als „Meditationsbilder“ bezeichnet. In dieser Meinung scheinen sich die künstlerischen Absichten in ihr Gegenteil zu verkehren. Damit beweisen aber Farbe und Bildfläche ihre überzeugende Wirkung, die allein schon zum Innehalten und zur Sammlung führen. Die Reduzierung der Farben, das verhüllte Leuchten im hier betrachteten Bild, sowie die monoton gleichmäßige Pinselführung sind Qualitäten, die die Reaktion unterstützen und zu Erfahrung von Sinnbildlichkeit führen. Sie ist unbestimmt, individuell verschiedenartig erlebbar und verlockt durch die versteckte Farbigkeit unter opalisierender Oberfläche.

Unscharfe Verheißungen
Entgegen dem dem Titel, der nüchtern wie ein Laborprotokoll „Weißlasur über Farbe“ heißt, scheint über dem Bild der Schleier des Geheimnisvollen zu wehen. Das Versteckspiel unter der transparenten Decke, verbunden mit anschließendem Rätseln über den unterschichtigen Farbverlauf, mag diesen Eindruck erwecken. Verborgenes lenkt immer die Aufmerksamkeit auf sich.
Wie anziehend Geheimnis­volles wirkt, erzählen Märchen und Mythen, teilt sich mit in anspruchsvollen Sinndeutungen und alltäglichen Kolportagen. In ihnen bedeutet ein Geheimnis die Verheißung unbegrenzter Möglichkeiten. Es ist ein Raum, in dem etwas geschehen könnte, Wahrscheinlichkeitsraum. Wo die Literatur keine Deutung bietet, fühlen wir uns selbst aktiviert, projizieren unsere Ergänzungen in die Lücken zwischen den verheißungsvollen Signalen und hoffen, das Wesentliche zu treffen. Alle Künste versuchen, sich dem Geheimnisvollen zu nähern und es in ihrerseits geheimnisvollen Zeichen auszudrücken. Wären die dabei entstehenden Chiffren eindeutig, löste sich das Geheimnisvolle auf und mit ihm seine Faszination. Das nicht genau zu Erfassende übt eine gleich starke, wenn auch andersartige Wirkung aus, wie das präzise Benennbare. Es ist wie ein Versprechen, dass das Gesuchte letztlich vorhanden ist.

Insel der Präzision
Diese Bereitschaft zum Umgang mit unbestimmten Bedingungen und zur Intuition ist naturwissenschaftlicher Professionalität überwiegend wesensfremd. In wissenschaftlichem Selbstverständnis ist seit zweihundert Jahren (Cartesische Wende) die Welt rational und objektiv zu betrachten und darzustellen. Dieses Ziel setzt voraus Genauigkeit und Messbarkeit und verdrängt das Subjektive in wissenschaftlichen Theorien. Etwas überzeichnet, gehörten Natur-wissenschaftler zu einer Spezies von Menschen gezählt, die sich unterscheidet von den alltäglichen Zeitgenossen, die ihren anthropologischen Bedingungen folgen und Intuition und Gefühle bei der Suche nach Erkenntnis einsetzen. Diese Erkennniswege haben keine scharfen Ränder, sondern durchdringen Phänomene auf oft unbestimmte Weise. Trotzdem können sie den Kern der Wahrheit unmittelbar erschließen. Künstler nähern sich meist mit Vergnügen dem nicht Messbaren, dem Unbestimmten und finden dort die Freiräume für individuelle Deutungen, wie sie sich auf den „Wegen ohne scharfe Ränder“ einleuchtend darstellen. Doch auch bei manchen Naturwissenschaftlern ist wachsende Offenheit gegenüber dem Zusammenspiel rationalen und nicht-rationalen Erkennens ablesbar.

Inselbeben
Stellen wir uns vor, dass der Strom menschlicher Erkenntnismöglichkeiten eine Insel des ausschließlich objektiven, präzisen, naturwissenschaftlichen Erkenntnis umfließt. Die Bewohner dieser Insel wurden aufgeschreckt durch mehrere Erdbeben während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Erstaunlicherweise waren diese selbst verursacht. Eine Elite von Naturwissenschaftlern (Plank, Heisenberg, Bohr, Schrödinger, Pauli, Einstein), setzte eine neue Physik an die Stelle der klassischen und boten der Menschheit ein verändertes Verständnis der Welt an.                                                            Eigentlich wollten diese Wissenschaftler nur im Rahmen der Spektroskopie sich mit dem Licht beschäftigten, das von Materie ausgeht oder von ihr geschluckt wird. Dabei überraschte sie die Tatsache, dass der dabei beobachtete Energieaustausch nicht wie erwartet gleichmäßig, sondern ungleichmäßig erfolgte, in so genannten Quantenpaketen. Das bisherige Bild vom kontinuierlichen Verhalten der Natur geriet ins Wanken. Weiter ergab sich ein unbestimmbares Verhalten atomarer Teilchen beim Versuch, genaue Messungen über deren Ort und über ihre Geschwindigkeit zu erhalten. Entweder ist der Ort erkennbar, aber nicht die Geschwindigkeit oder umgekehrt. Hier entzieht sich die Materie präzisem, wissenschaftlichem Zugriff und bietet ihm nur Möglichkeiten ihres Verhaltens an.
Schließlich erhielt der Anspruch auf wissenschaftliche Eindeutigkeit einen weiteren Stoß beim experimentellen Nachweis, dass das Phänomen Licht zweideutig auftritt, indem es sich je nach Beobachtung als Teilchen oder als Welle darstellt (Welle-Teilchen-Dualismus).
Genau genommen zeigen die Elektronen überhaupt erst Eigenschaften, wenn sie beobachtet werden. Ihr jeweiliges Verhalten ist also Ergebnis einer Interaktion mit dem Beobachter und der Art seines Experiments. Auch ob sich Licht in Form von Wellen oder in Form von Korpuskeln zeigt, ist von der Art der Befragung abhängig. Mit dieser Erfahrung wurde die Spur des Subjektiven in der Naturwissenschaft offen­gelegt.
Die Beben, die die Insel der naturwissenschaftlichen Objektivität erschütterten, waren also von verschiedenen, aber zusammenhängenden Erkenntnissen ausgelöst: Die wissenschaftlichen Theorien über die Welt werden von da an Unbestimmtheit, Zweideutigkeit, Wahrscheinlichkeit und Diskontinuität einzuschließen haben. Aus neuer Sicht stellt sich die alte Frage nach der Determinierheit der Welt.

Qualitäten des Unbestimmten
Somit ist die Bedeutung der Quantentheorie nicht nur physikalischer, sondern auch philosophischer Art. Die Erkenntnisse, die die damaligen Physiker überraschten, öffnen die Augen für Materie und Energie, als nur potenzielle wie auch vorhandene Realität unserer Welt. Der Einbruch des nicht Bestimmbaren, des nicht klar zu Trennenden, des „Sowohl-als-auch“, wie es der Physiker und Heisenberg-Schüler H. P. Dürr nennt, ergänzt komplementär die einseitige Weltsicht der rationalen Objektivität. Unbestimmbarkeit in der Physik zeigt auch, dass Natur komplexer ist als das wissenschaftliche Bild von ihr. Wir zeichnen es nach den Antworten der von uns gestellten, experimentellen Fragen und spiegeln uns selbst in der so entworfenen Natur.

In der Unbestimmtheitsrelation wie sie Werner Heisenberg 1927 formulierte, liegt eine Zusammenfassung des neuen Bildes der Materie, aus der die Welt besteht. In ihm haben Unbestimmbarkeit und Wahrscheinlichkeit Platz, ihre statistischen Werte sind durchaus zu fassen und mathematisch verwendbar. Der komplementäre Raum zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem, zwischen Möglichkeit zur Realität und vollzogener Realität bildet die Gesamtheit der Welt. Sie bleibt uns in mancher Hinsicht verborgen.                                                          Doch dieser Bereich des unbestimmt Möglichen steht unseren Erfahrungen im Leben und in der Kunst nahe. Lothar Quinte integriert in dem betrachteten Bild das Unbestimmte in seine künstlerische Komposition. Es ist ein Medium, das die Bedeutung des Verborgenem vermittelt. Die intensiven Farbbahnen unter der unbestimmten weißen Verunklarung sind wie physikalische Phänomene, die auch wirken, wenn sie nicht genau bestimmbar sind. Vielleicht sind die unbestimmbaren Wirkungen die wirksamsten.­