Spanische Tische

Dieser Text entstandt in einem Schreibseminar bei Daniel Kehlmann in der Bundesakademie Wolfenbüttel. Thema: »Picasso wie ihn keiner kennt.«

Ich saß fest. Ein Stück der runden Tischplatte klappte nach unten. Der goldbraune  Halbkreis presste meine Knie auf den Bistrostuhl des Museumlokals. Zwei Beine des Tisches nahmen meine zwischen sich. An entspannendes Ausstrecken, an bequemes Sitzen war nicht zu denken. Vor mir richtete sich die Tischfläche steil auf, doch die Dinge, die daraufstanden, schien dies nicht zu kümmern. Trotzdem bat ich die Kellnerin, die Weinflasche wegzunehmen. Das schmalschultrige Gefäß hatte keine runde Standfläche und neigte zum Kippen. Zumal es von einer volumenreichen Zucker­schale bedrängt wurde, die ihren hellen Schlund weit aufriss, aber unten wie eine Kaffeefiltertüte balancierte. Prompt entstanden Schwierig­keiten beim Abser­vieren: Flasche und Schale waren unzertrennlich und mussten gemeinsam mitgenommen werden.
Sie hinterließen zwei tief violettfarbene, kreisförmige Schatten  auf dem Tisch, als wären sie von sicheren Sockeln grundlos vertrieben worden – und ihr Schwindel wäre nur der meiner Wahrnehmung gewesen. Während ich mich darüber befragte, beobachtete ich, wie sich in die violetten Kreise die zarten Umrisse von lila Laubblättern wie ein Tapetenmuster einzeichneten, bevor die Kellnerin eine zusammengefaltete Tageszeitung darüberschob. Ich bestellte einen Kaffee und ein Glas Wasser, bevorstehende Schwierigkeiten nicht ahnend. Während des Wartens hätte ich gern nach der Zeitung gegriffen, aber ich konnte mich nicht weit genug vorbeugen, die abgeklappte Tischplatte drückte mich auf den Stuhl zurück. Doch wozu die Anstrengung? Die Zeitung sah ohnehin nicht tagesfrisch aus. Das Papier bröselte vergilbt, die Schrifttypen sprachen von früher. Nur ein Bruchstück des Zeitungskopfes konnte ich lesen: Le Jou. Ja, welches Spiel wurde an diesem Bistrotisch  mit mir getrieben?
Der Kaffee wurde vor mich gestellt. Ein Becherglas, kaltweiß. Es umschloss den dunkelbraunen Inhalt, der wie eine halbierte Frucht im Glas lag mit einem mandelförmigen Kern, der Laffe des Kaffeelöffels. Als ich den Löffel umfasste, um ihn herauszunehmen, wich meine Hand unerwartet zurück. Ich hatte nur einen Schaft in der Hand, der untere Teil verblieb im Kaffee. Irritiert tauchte ich den Griff  wieder ein, damit er sich mit seinem Kopfteil verbinde, aber meine vielen Versuche blieben erfolglos. Gebrochen vom Oberflächenspiegel der Flüssigkeit mündete der Griff nicht an der Laffe, sondern neben ihr. Kopfschüttelnd sah ich mir und meinem vergeblichen Tun zu. Die einfachsten Bedingungen des Alltags hatten sich hier verabschiedet. Worauf sonst sollte ich mich denn noch verlassen?
Wahrscheinlich fiel mein unbeholfenes, aufgeregtes Hantieren anderen Gästen schon auf.  Zu den beiden Herren am Nachbartisch schaute ich geflissentlich nicht hin. Zum Glück unterhielten sie sich pausenlos, wenn ich richtig vermutete, auf spanisch.

Der verlockenden Kaffeeduft stieg in Wölkchen zu meiner Nase auf, wobei ich ihn bei meinen vergeblichen Versuchen immer wieder aufrührte. Der Becher gefiel mir durchaus in seiner extravaganten Form. Er kombinierte seine geschwungene Gefäßwand mit einer wie mit dem Lineal gezogenen Kante. Doch ich wollte aus diesem wie immer geformten Gefäß trinken, was mir zu meinem ärgerlichen Entsetzen nicht gelang. Nicht nur der Löffel vereitelte dies, sondern auch der unterschiedliche Durchmesser der Becheröffnung. Stand das Glas auf dem Tisch, schien es normal breit zu sein, hob ich es an und schaute  hinein bevor ich es an die Lippen setzte, öffnete sich nur ein kleiner Kreis, der zu eng zum Trinken war. Es war zum Verzweifeln.

Als die Kellnerin den Wasserkrug und das Glas servierte, stellte sie alles so rasch auf den Tisch, dass mir keine Gelegenheit blieb, mich zu beschweren. Gespannt beobachtend lehnte ich mich zurück und zuckte auch gleich zusammen. Kaum auf meinen Tisch gesetzt, streckte und blähte sich der Krug. Sein Hals, ein auf den Kopf gestellter Kegelstumpf, stürzte sich in die Eiform des Bauches. Der Henkel löste sich unten aus seiner Befestigung, schlug mit einer herausfordernden Geste nach oben, und bog sich nach hinten, nicht anders als  – als eine der Frauen von den Demoiselles, die ich heute Vormittag gesehen hatte. Ja, wie die zweite von links, die in koketter Enthüllungs­pose einen erhobenen Arm hinter den Kopf gebogen hält und sich zeigt.
Die kantigen Konturen tanzten noch vor meinen Augen, als ein großer granatfarbener Schatten über den Tisch fiel. Er vertiefte die Umrisse der Gegenstände, malte Rechtecke hinter sie, zerfiel dann in transparente Splitterstücke, die sich teilweise übereinander schichteten und das Rot zu rauchigen Farbfeldern verdunkelte. Diese schattierten sich um die Gegenstände herum und überzogen schließlich die gesamte steile Tischplatte. Als die vielen kristallinen Winkelflächen gemeinsam mit einigen Zirkelkreisen ihre Plätze gefunden hatten, spürte ich plötzlich jemand neben mir stehen. Mein seitwärts gerichteter Blick kletterte über die schwarz-weiße Sprossenwand eines Matrosensweaters in ein kantiges Männergesicht und stürzte ab in dunkle Augen. Mit einer Kopfbewegung deutete die Erscheinung zum Nachbartisch, von dem sie aufgestanden war und an dem der andere, der lange Schmale mit dem dunklen Spitzbart, noch immer saß.

Mein Tisch begann sich von mir wegzuschieben und steuerte auf einen großen, leeren Bilderrahmen an der Wand zu. Befreit sprang ich auf und folgte der Einladung. Am anderen Tisch erhielt ich sofort ein Glas Wasser aus einem der üblichen Krüge eingeschenkt. Es schmeckte köstlich. Der Kaffee wurde auch gleich bestellt, das Bekanntmachen der beiden Männer kam in Gang.
„Mein Freund Miguel und ich sind Spanier. Das ist uns wichtig“, sagte er und zog die Streifen über der breiten Brust straff. „Er ist Schriftsteller und ich Maler. Beide sehen wir die sichtbaren Dinge, aber wir denken sie um, weil sie eine andere Sprache für uns haben als für die anderen, die sie sehen“, er schaute mich fragend an, bevor er weiterredete. „So lange wir die Dinge auf unsere Weise denken, sehen wir sie auch so. Dann kämpfen wir um den Sieg über Drachen mit Windmühlenflügeln oder um den Sieg über jedermanns Wirklichkeit. Doch ich kämpfe gar nicht“, der Maler tauschte mit dem Schriftsteller einen einvernehmlichen Blick, „die Wirklichkeit ist doch gar nicht wirklich, sondern nur so, wie ich sie sehe. –  Ich folge einfach ihren Verlockungen,“ ergänzte er mit amüsiertem Anflug in den Mundwinkeln.
Seine kräftige braune Hand griff eine der Papierservietten und schrieb rasch ein Wort darauf, schon stehend verabschiedeten sich beide Männer. Im Weggehen erhielt ich  die Serviette zugeschoben und las: Picasso.