Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 1 – Markus Lüpertz

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen von fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

ÜBER DER RAHMEN HINAUS


Markus Lüpertz
Weißer, großer Drachen, 1977
Öl, Leimfarbe, Papier Leinwand, Holz

 

Aus dem Rahmen gefallen
Das sind keine unbedenklichen Kinderspiele auf dem Gemälde von Markus Lüpertz, seine Drachen steigen nicht nur, sie fliegen auch über den Rahmen hinaus. Sie drängen über die Begrenzung hinweg, wie selbstverständlich. Sie tun es, obwohl der gemalten Zweidimen­sionalität der Drachen eine kräftige, dreidimensionale Hürde entgegensteht: Der Rahmen ist nämlich ein massiver Türrahmen aus Holz, der auf die Leinwand geklebt ist.
Tür- oder Fensterrahmen eines Hauses umschließen gewöhnlich Befreiung, die Öffnung zum Hinüber oder Hinaus. Sie heben die Trennung auf zwischen Innen- und Außenraum und kennzeichnen den Durchlass. Aus dem Zuhause innen kann sich der Blick öffnen in eine farbige, andersartige Welt außen. Eigenartigerweise fühlen wir uns beim Betrachten von Markus Lüpertz’ Bild weder im Innenraum, noch von außen nach innen blickend. Beide Möglichkeiten scheinen verhindert. Die im Rahmen befindlichen Farbflächen sind kompakt und wichtig, sie lassen keine Spekulationen über den Raum zu.                                                                       Die Rhombenformen im und am Rahmen führen nicht in die Tiefe des Raums, sie bleiben in der Fläche, quasi nahe am Auge. Der weiße Drache, den Rahmen überfliegend, scheint in der gleichen Distanz zu sein wie der schwarze, der im Rahmen bleibt. Beim Blick durch eine geschliffene Linse scheint das betrachtete Objekt ähnlich nahe und monumentalisiert wie die geometrischen Gebilde im Rechteck dieses Gemäldes. Der Türrahmen im Bild könnte auch die Fassung einer überdimensionale Linse sein, die das Weiterwegliegende oder das Winzigkleine in Augennähe bringt. Wissenschaftler benutzten solche Linsensysteme in der Forschung bis im 20. Jahrhundert Röntgenaufnahmen und die bildgebenden Verfahren der elektronischen, digitalen und lasergesteuerten Geräte zur Verfügung standen.

Der Sichtrahmen oder das natürliche Blickfeld des Menschen wurde durch die instrumentellen Techniken so außerordentlich erweitert, dass sich der Blick in bisher verborgen gewesenen Wirklichkeiten eröffnete. Hinaus in die Weite des Weltraum, dessen Unendlichkeit auf diese Weise erst festgestellt werden konnte und hinein in die Tiefe des Mikrokosmos der Atome und Moleküle, richteten sich die Okulare. Die neuen optischen Horizonte initiierten neue geistige. Das erweiterte Wissen von Raum und Zeit, von Materie und Energie und von den Bedingungen des Lebens verlangt nicht nur nach entsprechendem theoretischem Ausdruck, sondern auch nach seiner Umsetzung in Technologien, die die Lebenswelt in vielfältiger Allgegenwärtigkeit verändern. Sie reichen von der Atomphysik bis zur Genetik. Diese beiden Stichworte beinhalten eine Spannbreite von allem, was ist, die aufzeigt, mit welch großen Schritten, der Mensch den Rahmen seines bisherigen Selbstverständnisses überschreitet.

Unterwegs zu Wirklichkeiten
Diese umfangreichen Entwicklungen in immer rascherem Tempo zu durchlaufen, charakterisiert das 20. Jahrhundert. Die Forschung drängte nachdrücklich über den bisherigen Rahmen der klassischen Naturwissenschaft hinaus. Die ungewohnte Reichweite des Optischen mobilisiert die prophetische Schau, die sowohl Euphorie wie Ängste weckt. Das Bild von der Beschaffenheit der Welt und von uns selbst wird ein anderes. Der kognitive Paradigmenwechsel wirkt sich aus auf das Lebensgefühl der Gesellschaft und auf deren Ausdruck, natürlich auch in der Kunst.

Zwei Wirklichkeiten stehen nun sich ergänzend nebeneinander, und zwei Erkenntniswege führen zu ihnen: Die erfahrbare und wahrnehmbare Welt, die seit Jahrhunderten Motiv der Künstler war, und der Mikro- und Makrokosmos, der nur mit instrumentellen Hilfsmitteln zugänglich wird. Er präsentiert sich in rationalen Kategorien der Messbarkeit, des Quantifizieren und der mathematischen Formeln. Die erstaunlichen Problemlösungen der großen naturwissenschaftlichen Forscher, die Theorien, die sie über die anvisierten Systeme legten, konnten entgegen weit verbreiteter Meinung jedoch nur mit Hilfe der Intuition gelingen. Werner Heisenberg schildert sehr anschaulich eine solche innere Schau, die ihn zu einem wichtigen Erkenntnisschritt in der Quantenphysik führte. Er gibt nur ein Beispiel von vielen in autobiographischen Schriften, in denen das Zusammenwirken rationaler und nicht-rationaler, intuitiver, Erkenntniskräfte in naturwissenschaftlichem Arbeiten mitgeteilt wird.

Das künstlerische Bild, auch das von Markus Lüpertz, verlangt in größerem Umfang in seiner Entstehung und zu seinem Erleben Intuition und Einfühlen. Seine Komplexität bliebe aber ebenfalls ohne das Zusammenspiel mit rationalem Erfassen unvollständig.
So verschieden Wirklichkeiten und Sprachen von Künstlern und Naturwissenschaftlern sind, so sehr der Eindruck vorhanden ist, dass die Imagination eine Fähigkeit ist, die vor allem dem Künstler zusteht, so verbindend ist gerade dieser Begriff mit Aspekten der Naturwissenschaften. Das zeigen die imaginären Zahlen als mathematische Einheiten, deren Bedeutung sich in der Quantenphysik in größerem Umfang offenbarte. Die Einheit i ist dort jenseits von Welle und Teilchen, bringt aber in der mathematischen Operation eins von beiden hervor. Das heißt, in der imaginären Dimension wird das entschieden, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Seit dieser Entdeckung sind sich auch Physiker der bedeutungsvollen Räume des Imaginären bewusster, in die der Künstler auf andere Weise schon immer zu Hause ist.

Von Denkformen zu Bildformen
Nicht umsonst wird von der Revolution der klassischen Physik durch die Physik des 20. Jahrhunderts gesprochen. Die Atmosphäre des Umstürzlerischen findet auch ihren Ausdruck in der Kunst. Es ist verständlich, dass eine Veränderung der Kenntnisse über uns und unsere Lebenswelt auch veränderte Momente des Denkens und Vorstellens erzeugt. Selbst ohne unmittelbare Beschäftigung mit den Inhalten der aktuellen naturwissenschaftlichen Theorien entsteht eine geistige Atmosphäre, eine Tendenz, Gedanken, Verhalten, Phantasien und Materialien in bestimmten Formen Gestalt annehmen zu lassen.
Sicher hat Markus Lüpertz beim Malen dieses Bildes nicht an die Quantentheorie gedacht, deren Anfänge schon über fünfzig Jahren zurücklagen und deren Auswirkungen als Basis der Computertechnik unsere Alltagswelt heute bestimmen. Aber auch der Künstler ist Kind seiner Zeit, dazu mit besonders empfänglicher Wahrnehmung ausgestattet. Er atmet ein die geistige Atmosphäre, in der er lebt und bildet Formen, die davon mitteilen. Wobei das Hinausgehen über den gesetzten Rahmen nicht nur einem Zeitgeschehen entspricht, – im betrachteten Bild das Hinausmalen über den plastischen Türrahmen – sondern auch einem elementaren Bedürfnis des Menschen nach Grenzerfahrung.

Im individuellen wie gesellschaftlichen Leben bieten Grenzen Beschränkung und gleichzeitig Sicherheit. Die Evolutionsgeschichte ließe sich auch schildern als ein fortlaufendes Überschreiten schon vorhandener Formen zu anderen, also einem ständigen Überschreiten von Grenzen. Sei es durch Gestoßensein, Verlockung oder durch eigenen Willen, nur so ist das eigene Potential zu erfahren. Kreative Kräfte sind dabei vorausgesetzt und werden freigegeben. Selbst das Scheitern hat die Qualität, bisher unbekannte Strategien entwickeln zu lassen, die nicht auf den auslösenden Vorgang beschränkt bleiben müssen. Der nutzbringende Umgang mit Ängsten lässt sich nur an den Grenzen unseres Sicherheitsbedürfnisses üben.
Die beschleunigte und erfolgreiche Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert öffnete Grenzen und verursachte Verunsicherungen. Der vom vorigen Jahrhundert mitgetragene Fortschrittsglaube an die Naturwissenschaft wurde durch umfassende Erkenntnisse belohnt. Der Mensch konnte auf sich und seine Macht vertrauen und die aufgeklärte Negierung traditionelle Autoritäten fand Unterstützung. Dann aber erfahren wir zwischen Hiroshima und Umweltkatastrophen das zerstörerische Potential unseres Wissens. Der beobachtende Blick auf das Szenario des Jahrhunderts verlangt nun nach reflektierender Auseinandersetzung.

„Stil-Bilder“ und der Gott der Künstler
Wie sehr sich der Maler Markus Lüpertz mit seiner Zeit beschäftigt, zeigt seine Serie der so genannten „Stil-Bilder“, in denen er sich mit der Kunstgeschichte seines Jahrhunderts auf persönliche Weise auseinandersetzt. Die geometrisierenden Formen der Drachen erinnern an die Malerei des Kubismus in den Anfängen des Jahrhunderts, der sich mit Analyse und Synthese der gegenständlichen Formen und des Raumes befasste. Im Grunde ein typisch wissenschaftliches Arbeitsverfahren, dessen Übernahmen in den künstlerischen Bereich etwas von der geistigen Dominanz der Naturwissenschaft ahnen lässt.
Der in der Kunst gebräuchliche perspektivische Raum löst sich unter frei gewählten Blickwinkeln auf, dies kann zu neuen Dimensionen führen oder zu einer gewissen Flächigkeit, wie in dem Gemälde von Markus Lüpertz.
Die kubistischen Maler der Zwanzigerjahre waren nicht von ungefähr mit den Problemen der Raumdarstellung.beschäftigt. Auch in den Naturwissenschaften hatte die traditionelle Auseinandersetzung mit den speziellen kosmologischen Raumvorstellungen neue Aspekte erfahren. Die Sonnenfinsternis von 1919 bewies einer aufgeregten Öffentlichkeit, dass die bisher nur in Fachkreisen bekannte Gravitationsgleichung Einsteins von 1915 stimmte. Raum und Materie stehen in einem ungeahnten Zusammenhang. Masse vermag sogar den Raum zu krümmen, was bei der Beobachtung einer Sternenbahn bei ausgeblendetem Sonnenlicht mit dem bloßen Auge zu verfolgen war.
Unter diesen und anderen Einflüssen waren die Räumlichkeit der Dinge und die Konsequenzen ihrer veränderten Darstellung Thema der Kubisten. Eine der Methoden war dabei, plastischen Gegenstände in Teilflächen zu zerlegen und wieder zu freien Gebilden zusammenzusetzen. Der Künstler wurde so zum Schöpfer einer eigenen Dingwelt.
Lüpertz’ Dreiecke und Rhomboide auf dem betrachteten Bild sind zwar verwandt mit den kubistischen Bildelementen, aber sie sind auf andere Weise entstanden. Er wählte die Papierdrachen der Kinderspiele, die ohnehin diese Formen haben. Auch das Einmontieren eines fremden Materialelements ist von kubistischen Experimenten übernommen. Der aufgeklebte Holzrahmen entspricht den dadaistisch begleiteten Anfängen des Kubismus, in denen die Technik des Collagierens zum Konzept gehörte. Allerdings ist die Größe des collagierten Teils – gleich ein ganzer Türrahmen – eher ungewöhnlich. Sie könnte Rückschlüsse auf den Anspruch des Künstlers zulassen.

Dieses Spiel mit längst Abgehandeltem, mit Nicht-eigenem, kann als artistische Regelverletzung und damit Überschreiten eines traditionellen Rahmens künstlerischen Selbstverständnisses gesehen werden. Aus den Überlieferungen durch ein verändertes Weltverständnis entlassen, entwickeln Menschen unterschiedliche Weisen des Umgangs mit der gewonnenen Freiheit. Eine davon illustriert sich in der Art des Selbstbewusstseins, wie sie die Bemerkung von Markus Lüpertz zu äußern scheint: „Wenn ich an Gott glauben würde, könnte ich nicht an die Kunst glauben. Der Künstler glaubt nur an den eigenen Gott.“ (Art Nr.1, Januar 2001)