Das halbe Bild

Kann ein halbes Bild die ganze Wahrheit sein?angelo-custode-detail
Und was ist seine Wahrheit?
Die der Künstler, der Glauben, der Zeiten, – die, die Betrachter darin sehen?
Ein Betrachter, der mit der Schere in der Hand absichtsvoll ein großes Gemälde klein und einen Detail daraus groß macht, wie im Ausschnitt hier zu sehen ist.
So geschehen zum Glück nur im Abbild des Originalgemäldes von Carlo Dolci „Angelo Custode“ von 1675.

Ein Kind blickt über seine Schulter rückwärts nach unten zu zwei Tulpen, die im Erdboden fest verwurzelt ihre Blüten auf gebogenen Stielen tanzen lassen.
Ernsthaft und wie gefangen genommen ist der kindliche Blick. Mit Schwung dreht sich der Körper des Jungen dem farbigen Glanz der Tulpen zu.
Deren Wahrheit ist eine halbe, sie verraten nicht ihren Standort: Ihre Schönheit wächst am Rande des Verderbens. Das Kind blickt in einen verdeckt gehaltenen Abgrund.
Mit ruhigem Gesicht, seine Augen fokussiert, aber nicht schreckgeweitet, sein Mund entspannt geschwungen, nicht zum Schrei geöffnet. Ist es die Zaubermacht der Schönheit, die wirkt und die Angst vor dem Sturz vergessen lässt? Oder hält der Junge sich für unverletzlich und geborgen? Woher die Gelassenheit über einem Absturz hängend?

Die Antwort liegt in der anderen Hälfte des Bildes, der unsichtbaren, die – die der Schere zum Opfer fiel. Hätte der Maler ihn doch von vornherein unsichtbar gelassen, diesen heran rauschende Schutzengel in elegant-barocken Römersandalen, unerklärlichen Gewand- und Körperwindungen und einem Blick, der mehr dem Bildbetrachter gilt als dem Kind in Not.
Doch immerhin der Engel wird angetrieben durch das Vertrauen, durch die Zuversicht des Kindes in seine Rettung.

Das wäre also die ganze Wahrheit, die Carlo Dolci seinen gläubigen Betrachtern mit dem ganzen Bild mitteilen wollte: Verzage nicht, dein Schutzengel hilft.
Was bleibt davon jenen, die nicht an Schutzengel glauben?
Sie kommen durch das halbe Bild in den Genuss von Wahrheit. Sie kann sein die Schönheit, die den Abgrund über dem sie blüht, vergessen lässt. Sie kann sein die Einsicht, dass helfende Kräfte sich nicht personifizieren müssen, sondern unsichtbar in und um uns wirken dürfen.
Aber Wahrheit, selbst halbe, ist nicht billig zu haben. Sie verlangt Vertrauen, besser noch: Ahnung. Die ahnende Zuversicht, es könnte wahr sein, dass in der Kraft des Nicht-sichtbaren das Bewahren des Lebens liegt.
Das ist die ganze Wahrheit des halben Bildes vom „Angelo Custode“.

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Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 1 – Markus Lüpertz

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen von fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

ÜBER DER RAHMEN HINAUS


Markus Lüpertz
Weißer, großer Drachen, 1977
Öl, Leimfarbe, Papier Leinwand, Holz

 

Aus dem Rahmen gefallen
Das sind keine unbedenklichen Kinderspiele auf dem Gemälde von Markus Lüpertz, seine Drachen steigen nicht nur, sie fliegen auch über den Rahmen hinaus. Sie drängen über die Begrenzung hinweg, wie selbstverständlich. Sie tun es, obwohl der gemalten Zweidimen­sionalität der Drachen eine kräftige, dreidimensionale Hürde entgegensteht: Der Rahmen ist nämlich ein massiver Türrahmen aus Holz, der auf die Leinwand geklebt ist.
Tür- oder Fensterrahmen eines Hauses umschließen gewöhnlich Befreiung, die Öffnung zum Hinüber oder Hinaus. Sie heben die Trennung auf zwischen Innen- und Außenraum und kennzeichnen den Durchlass. Aus dem Zuhause innen kann sich der Blick öffnen in eine farbige, andersartige Welt außen. Eigenartigerweise fühlen wir uns beim Betrachten von Markus Lüpertz’ Bild weder im Innenraum, noch von außen nach innen blickend. Beide Möglichkeiten scheinen verhindert. Die im Rahmen befindlichen Farbflächen sind kompakt und wichtig, sie lassen keine Spekulationen über den Raum zu.                                                                       Die Rhombenformen im und am Rahmen führen nicht in die Tiefe des Raums, sie bleiben in der Fläche, quasi nahe am Auge. Der weiße Drache, den Rahmen überfliegend, scheint in der gleichen Distanz zu sein wie der schwarze, der im Rahmen bleibt. Beim Blick durch eine geschliffene Linse scheint das betrachtete Objekt ähnlich nahe und monumentalisiert wie die geometrischen Gebilde im Rechteck dieses Gemäldes. Der Türrahmen im Bild könnte auch die Fassung einer überdimensionale Linse sein, die das Weiterwegliegende oder das Winzigkleine in Augennähe bringt. Wissenschaftler benutzten solche Linsensysteme in der Forschung bis im 20. Jahrhundert Röntgenaufnahmen und die bildgebenden Verfahren der elektronischen, digitalen und lasergesteuerten Geräte zur Verfügung standen.

Der Sichtrahmen oder das natürliche Blickfeld des Menschen wurde durch die instrumentellen Techniken so außerordentlich erweitert, dass sich der Blick in bisher verborgen gewesenen Wirklichkeiten eröffnete. Hinaus in die Weite des Weltraum, dessen Unendlichkeit auf diese Weise erst festgestellt werden konnte und hinein in die Tiefe des Mikrokosmos der Atome und Moleküle, richteten sich die Okulare. Die neuen optischen Horizonte initiierten neue geistige. Das erweiterte Wissen von Raum und Zeit, von Materie und Energie und von den Bedingungen des Lebens verlangt nicht nur nach entsprechendem theoretischem Ausdruck, sondern auch nach seiner Umsetzung in Technologien, die die Lebenswelt in vielfältiger Allgegenwärtigkeit verändern. Sie reichen von der Atomphysik bis zur Genetik. Diese beiden Stichworte beinhalten eine Spannbreite von allem, was ist, die aufzeigt, mit welch großen Schritten, der Mensch den Rahmen seines bisherigen Selbstverständnisses überschreitet.

Unterwegs zu Wirklichkeiten
Diese umfangreichen Entwicklungen in immer rascherem Tempo zu durchlaufen, charakterisiert das 20. Jahrhundert. Die Forschung drängte nachdrücklich über den bisherigen Rahmen der klassischen Naturwissenschaft hinaus. Die ungewohnte Reichweite des Optischen mobilisiert die prophetische Schau, die sowohl Euphorie wie Ängste weckt. Das Bild von der Beschaffenheit der Welt und von uns selbst wird ein anderes. Der kognitive Paradigmenwechsel wirkt sich aus auf das Lebensgefühl der Gesellschaft und auf deren Ausdruck, natürlich auch in der Kunst.

Zwei Wirklichkeiten stehen nun sich ergänzend nebeneinander, und zwei Erkenntniswege führen zu ihnen: Die erfahrbare und wahrnehmbare Welt, die seit Jahrhunderten Motiv der Künstler war, und der Mikro- und Makrokosmos, der nur mit instrumentellen Hilfsmitteln zugänglich wird. Er präsentiert sich in rationalen Kategorien der Messbarkeit, des Quantifizieren und der mathematischen Formeln. Die erstaunlichen Problemlösungen der großen naturwissenschaftlichen Forscher, die Theorien, die sie über die anvisierten Systeme legten, konnten entgegen weit verbreiteter Meinung jedoch nur mit Hilfe der Intuition gelingen. Werner Heisenberg schildert sehr anschaulich eine solche innere Schau, die ihn zu einem wichtigen Erkenntnisschritt in der Quantenphysik führte. Er gibt nur ein Beispiel von vielen in autobiographischen Schriften, in denen das Zusammenwirken rationaler und nicht-rationaler, intuitiver, Erkenntniskräfte in naturwissenschaftlichem Arbeiten mitgeteilt wird.

Das künstlerische Bild, auch das von Markus Lüpertz, verlangt in größerem Umfang in seiner Entstehung und zu seinem Erleben Intuition und Einfühlen. Seine Komplexität bliebe aber ebenfalls ohne das Zusammenspiel mit rationalem Erfassen unvollständig.
So verschieden Wirklichkeiten und Sprachen von Künstlern und Naturwissenschaftlern sind, so sehr der Eindruck vorhanden ist, dass die Imagination eine Fähigkeit ist, die vor allem dem Künstler zusteht, so verbindend ist gerade dieser Begriff mit Aspekten der Naturwissenschaften. Das zeigen die imaginären Zahlen als mathematische Einheiten, deren Bedeutung sich in der Quantenphysik in größerem Umfang offenbarte. Die Einheit i ist dort jenseits von Welle und Teilchen, bringt aber in der mathematischen Operation eins von beiden hervor. Das heißt, in der imaginären Dimension wird das entschieden, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Seit dieser Entdeckung sind sich auch Physiker der bedeutungsvollen Räume des Imaginären bewusster, in die der Künstler auf andere Weise schon immer zu Hause ist.

Von Denkformen zu Bildformen
Nicht umsonst wird von der Revolution der klassischen Physik durch die Physik des 20. Jahrhunderts gesprochen. Die Atmosphäre des Umstürzlerischen findet auch ihren Ausdruck in der Kunst. Es ist verständlich, dass eine Veränderung der Kenntnisse über uns und unsere Lebenswelt auch veränderte Momente des Denkens und Vorstellens erzeugt. Selbst ohne unmittelbare Beschäftigung mit den Inhalten der aktuellen naturwissenschaftlichen Theorien entsteht eine geistige Atmosphäre, eine Tendenz, Gedanken, Verhalten, Phantasien und Materialien in bestimmten Formen Gestalt annehmen zu lassen.
Sicher hat Markus Lüpertz beim Malen dieses Bildes nicht an die Quantentheorie gedacht, deren Anfänge schon über fünfzig Jahren zurücklagen und deren Auswirkungen als Basis der Computertechnik unsere Alltagswelt heute bestimmen. Aber auch der Künstler ist Kind seiner Zeit, dazu mit besonders empfänglicher Wahrnehmung ausgestattet. Er atmet ein die geistige Atmosphäre, in der er lebt und bildet Formen, die davon mitteilen. Wobei das Hinausgehen über den gesetzten Rahmen nicht nur einem Zeitgeschehen entspricht, – im betrachteten Bild das Hinausmalen über den plastischen Türrahmen – sondern auch einem elementaren Bedürfnis des Menschen nach Grenzerfahrung.

Im individuellen wie gesellschaftlichen Leben bieten Grenzen Beschränkung und gleichzeitig Sicherheit. Die Evolutionsgeschichte ließe sich auch schildern als ein fortlaufendes Überschreiten schon vorhandener Formen zu anderen, also einem ständigen Überschreiten von Grenzen. Sei es durch Gestoßensein, Verlockung oder durch eigenen Willen, nur so ist das eigene Potential zu erfahren. Kreative Kräfte sind dabei vorausgesetzt und werden freigegeben. Selbst das Scheitern hat die Qualität, bisher unbekannte Strategien entwickeln zu lassen, die nicht auf den auslösenden Vorgang beschränkt bleiben müssen. Der nutzbringende Umgang mit Ängsten lässt sich nur an den Grenzen unseres Sicherheitsbedürfnisses üben.
Die beschleunigte und erfolgreiche Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert öffnete Grenzen und verursachte Verunsicherungen. Der vom vorigen Jahrhundert mitgetragene Fortschrittsglaube an die Naturwissenschaft wurde durch umfassende Erkenntnisse belohnt. Der Mensch konnte auf sich und seine Macht vertrauen und die aufgeklärte Negierung traditionelle Autoritäten fand Unterstützung. Dann aber erfahren wir zwischen Hiroshima und Umweltkatastrophen das zerstörerische Potential unseres Wissens. Der beobachtende Blick auf das Szenario des Jahrhunderts verlangt nun nach reflektierender Auseinandersetzung.

„Stil-Bilder“ und der Gott der Künstler
Wie sehr sich der Maler Markus Lüpertz mit seiner Zeit beschäftigt, zeigt seine Serie der so genannten „Stil-Bilder“, in denen er sich mit der Kunstgeschichte seines Jahrhunderts auf persönliche Weise auseinandersetzt. Die geometrisierenden Formen der Drachen erinnern an die Malerei des Kubismus in den Anfängen des Jahrhunderts, der sich mit Analyse und Synthese der gegenständlichen Formen und des Raumes befasste. Im Grunde ein typisch wissenschaftliches Arbeitsverfahren, dessen Übernahmen in den künstlerischen Bereich etwas von der geistigen Dominanz der Naturwissenschaft ahnen lässt.
Der in der Kunst gebräuchliche perspektivische Raum löst sich unter frei gewählten Blickwinkeln auf, dies kann zu neuen Dimensionen führen oder zu einer gewissen Flächigkeit, wie in dem Gemälde von Markus Lüpertz.
Die kubistischen Maler der Zwanzigerjahre waren nicht von ungefähr mit den Problemen der Raumdarstellung.beschäftigt. Auch in den Naturwissenschaften hatte die traditionelle Auseinandersetzung mit den speziellen kosmologischen Raumvorstellungen neue Aspekte erfahren. Die Sonnenfinsternis von 1919 bewies einer aufgeregten Öffentlichkeit, dass die bisher nur in Fachkreisen bekannte Gravitationsgleichung Einsteins von 1915 stimmte. Raum und Materie stehen in einem ungeahnten Zusammenhang. Masse vermag sogar den Raum zu krümmen, was bei der Beobachtung einer Sternenbahn bei ausgeblendetem Sonnenlicht mit dem bloßen Auge zu verfolgen war.
Unter diesen und anderen Einflüssen waren die Räumlichkeit der Dinge und die Konsequenzen ihrer veränderten Darstellung Thema der Kubisten. Eine der Methoden war dabei, plastischen Gegenstände in Teilflächen zu zerlegen und wieder zu freien Gebilden zusammenzusetzen. Der Künstler wurde so zum Schöpfer einer eigenen Dingwelt.
Lüpertz’ Dreiecke und Rhomboide auf dem betrachteten Bild sind zwar verwandt mit den kubistischen Bildelementen, aber sie sind auf andere Weise entstanden. Er wählte die Papierdrachen der Kinderspiele, die ohnehin diese Formen haben. Auch das Einmontieren eines fremden Materialelements ist von kubistischen Experimenten übernommen. Der aufgeklebte Holzrahmen entspricht den dadaistisch begleiteten Anfängen des Kubismus, in denen die Technik des Collagierens zum Konzept gehörte. Allerdings ist die Größe des collagierten Teils – gleich ein ganzer Türrahmen – eher ungewöhnlich. Sie könnte Rückschlüsse auf den Anspruch des Künstlers zulassen.

Dieses Spiel mit längst Abgehandeltem, mit Nicht-eigenem, kann als artistische Regelverletzung und damit Überschreiten eines traditionellen Rahmens künstlerischen Selbstverständnisses gesehen werden. Aus den Überlieferungen durch ein verändertes Weltverständnis entlassen, entwickeln Menschen unterschiedliche Weisen des Umgangs mit der gewonnenen Freiheit. Eine davon illustriert sich in der Art des Selbstbewusstseins, wie sie die Bemerkung von Markus Lüpertz zu äußern scheint: „Wenn ich an Gott glauben würde, könnte ich nicht an die Kunst glauben. Der Künstler glaubt nur an den eigenen Gott.“ (Art Nr.1, Januar 2001)

 

 

Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 2 – Julius Bissier

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen von fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

RAUM-ENTWÜRFE

Julius Bissier     

Rheinfähre,  Öl auf Leinwand, 1928

Von Raum zu Raum
Wir schauen wie durch ein Fenster auf eine Rheinlandschaft in Basel, gemalt 1928 von Julius Bissier. Unser Blick geht über die Steine an der unteren Bildkante, entlang der Boote überquert er den breiten Fluss und prallt ab an der Bogenbrücke. Trotz dieser Begrenzung bleibt die Vorstellung möglich, hinter der Brücke vorbei an immer kleiner werdenden Häusern weiterzugehen. Schritt für Schritt werden wir hineingeführt in einen dreidimensionalen Raum unter einem weiten Himmel, der nur Illusion ist, denn wir bleiben doch vor der flachen, zweidimensionalen, bemalten Leinwand stehen.
Uns auf diese Weise in die Welt schauen lassen, darum haben sich die Künstler vergangener Zeiten außerordentlich bemüht, sie wollten virtuellen Räume auf ihren zweidimensionalen Malflächen entstehen lassen. Aber die Kunst des 20. Jahrhunderts begann mit dieser virtuosen perspektivischen Tradition zu brechen, sie war vielen Malern als Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeit unwichtig geworden. Warum das so ist, wird verständlich, wenn wir uns einige der verschiedenen Konzepte von Raum anschauen, die bis zu dieser Zeit entstanden waren und nachspüren, was sie für das Lebensgefühl der Menschen bedeuteten. Auch für Julius Bissier war die „Rheinfähre“ eines der letzten größeren Bilder, die er in perspektivischen Sicht malte.

Revolution im Bildraum
Es stellt sich die Frage, welche die ersten Bilder waren, die den Blick des Betrachters in Innenäume hinein oder in Landschaften hinaus führten?  Welche Vorfahren hatte Bissiers Rheinpanorama?
Vor siebenhundert Jahren hätte es keinen Maler interessiert, eine solche räumliche Landschaft seinen Zeitgenossen hinzuzaubern. Stattdessen wäre die gemalte Bläue des Himmels belebt gewesen, mit einer Darstellung Gottes, mit Heiligen und Engeln. Ihnen gebührte himmelblauen oder goldfarbigen Anstrich der Hintergrundsfläche, aber keinen Dingen wie Steine und Wasserfahrzeuge. Gottes Reich befand sich außerhalb dessen, was der Mensch um sich wahrnahm. Sein Raum war ein Himmel, der nichts mit dem sichtbaren Himmel zu tun hatte. Auf diesen imaginären Raum richteten sich die Menschen aus und in ihrer Vorstellung richteten sie ihn sich auch ein. Sie lebten in einem „spirituellen und einem physikalischen Universum“, wie Margaret Wertheim sagt. Und der irdische, physikalische Bereich fing gerade erst an, sie in seinen Bann zu ziehen.

Im Jahre 1305 erscheint auf der Wand einer Kapelle in Padua eine Freskenserie, von Giotto gemalt, auf der sich religiöse Szenen in häuslicher und landschaftlicher Ambiente abspielen. Das ist in der damaligen Zeit ungewohnt: Der Verkündigungsengel und die Madonna begegnen sich hinter gerafften Vorhängen, in der Raumtiefe sind Kanten des Mobilars erkennbar; Tierherden weiden auf dünn bewachsenen Berghängen während der Joachim des alten Testaments vor seiner Hütte träumt.
Diese Darstellungen waren außerordentlich, indem sie den Blick auf den diesseitigen dreidimensionalen Lebensraum lenken und zudem auf die Räumlichkeit der Dinge in ihm. Deren Plastizität modelliert sich aus Licht und Schatten.
Das Problem, Räumlichkeit auf einer Fläche überzeugend wiederzugeben, werden die Maler hundert Jahre später gelöst haben, indem sie das betrachtende Auge zum Maßstab der räumlichen Darstellung machen. Im „Augpunkt“ oder Fluchtpunkt auf der Bildfläche laufen alle Linien zusammen. Die uns heute selbstverständliche Zentralperspektive ist geboren.

Julius Bissier benutzt sie in recht versteckter Weise, indem er den Fluchtpunkt sehr weit rechts an die Bildkante legt. In ihm laufen die Sichtlinien der beiden Rheinufer zusammen. Damit verkürzt sich die Führung in den Raum entgegen der eigentlichen Absicht der Perspektive, seine Tiefe zu suggerieren Es verstärkt sich der Eindruck von Eingeschlossenheit, der schon durch die horizontal, verlaufende Steinbrücke entstanden ist.

Maler als Wegbereiter der Wissenschaft
Die Zentralperspektive ermöglicht dem Maler einerseits Nachahmung wirklicher Räume, und andererseits eröffnet sie eine Methode, den Raum und seinen Inhalte zu ordnen. Letzteres bedeutet Arbeit an einem Weltbild, wenn wir Raum auch als Lebens- und Zeitraum verstehen. Im perspektivischen System steht der Mensch an zentraler Stelle. Sein Blick auf die Objekte bestimmt deren Wertigkeit. Die dazu notwendige Überlegenheit distanzieren Künstler und Rezipienten von dem, was sie betrachten. Sie inszenieren und platzieren es nach ihrem Ermessen, unter Verwendung von Zahlen und Konstruktionen. Hier beginnen einige Grundzüge unserer heutigen Denkweisen.
Für die praktische Anwendung erarbeiteten bedeutende Maler und Architekten mathematische und geometrische Prinzipien, die die Zentralperspektive zu einem perfekten Regelwerk machten. Sie konzipierten ein symbolisches System, mit dem sie Bildräume in rational fassbaren Ordnungen der Geometrie gestalten konnten. Auf solche Weise wurden von Künstlern die Ordnungen vorbereitet, die Physiker und Astronomen in den folgenden Jahrhunderten für den kosmischen Raum entwickeln werden. Selten berührten sich Naturwissenschaft und Kunst so unmittelbar als in den Konzeptionen von Räumen. Die optischen Gesetzmäßigkeiten des räumlichen Sehens in der Bilddarstellung wurden wie die Bahnen der Gestirne im Weltall mit geometrischen Systemen beschrieben.
Damit wurde der transzendentale Raum des Himmels zu einem ausschließlich physikalisch konzipierten Universum und zu einem Betätigungsfeld für den Wissensdrang der wissenschaftlichen Forschung. Jedoch die spirituellen Bedürfnisse des Menschen nach dem Unbeschreiblichen leben in anderen Räumen, die, wie wir sehen werden, auch Julius Bissier aufsuchte.

Kosmologische Revolution
Dieser physikalische Entwurf des Universums erhielt gerade in dem Jahr, in dem die Stadt-und Flusslandschaft von Bissier gemalt wurde, 1928, einen Aufmerksamkeit erregenden neuen Impuls. Edwin Hubble gelang mit seinem Riesenteleskop die Entdeckung, dass der Weltraum sich mit großer Dynamik unaufhörlich nach allen Seiten ausdehnt. Die beunruhigende Beobachtung ersetzte einen statischen durch einen bewegten Weltraum. Damit war die Vorstellung Newtons von einem absoluten, unveränderlichen Weltraum vom Tisch. Albert Einstein folgte auf mathematischen Wegen den auseinander fliegenden Galaxien und bestätigte ihre expandierende Bewegung, die er als Theorie schon vorausgesagt hatte. Aus ihr ergab sich der Schluss auf einen explosionsartigen Urknall als Beginn der Expansion. Der Weltraum selbst war nicht mehr nur Bühne von Geschehnissen, sondern aktiver Mitgestalter, durchpulst von Strömungen und Dynamiken.
Für die daraus entstehenden Konsequenzen findet Albert Einstein in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den mathematischen Ausdruck in der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie. In ihren umwälzenden Aussagen verändern sich die bisherigen Vorstellungen von Raum und Zeit zugunsten eines dynamischen Zusammenhangs. Dieser ist Voraussetzung für eine neue Formel von Masse und Energie. Auch die Masse eines bewegten Körpers ist nicht mehr konstant, sondern wächst mit zunehmender Geschwindigkeit. Raum und Zeit sind verknüpft sowie Masse und Energie. Ihre unterschiedlichen Bezeichnungen entsprechen nur vorübergehenden Erscheinungsformendes des Einen. Bewegung und Zusammenhang sind den Kosmos bestimmende Prinzipien.
Die Physiker fingen an, eine neue Schöpfungsgeschichte zu schreiben, die nachdenklichen Menschen, je nach Veranlagung, ein Gefühl der Instabilität vermitteln konnte und den Wunsch nach ruhigen Zentren.

Entwicklungsräume
Julius Bissier war ein solch nachdenklicher Mensch und den wechselhaften Einflüssen einer unruhigen Zeit ausgesetzt. Diese Konditionen gestalten mit an seinem Werk.
Vor der Datierung des betrachteten Bildes lag der letzte Weltkrieg nur zehn Jahre zurück, die politischen Versuche der Weimarer Republik scheiterten und der kommende Nationalsozialismus begann sich abzuzeichnen. Aus existenzieller und geistiger Enge seines Elternhauses in Freiburg kommend, konnte die ungewöhnliche künstlerische und geistige Begabung Julius Bissiers sich nur langsam, von vielen Selbstzweifeln geplagt, schrittweise verwirklichen. Wobei die Schrittfolgen im Prozess der ständigen Infragestellung seiner selbst unterschiedliche Richtungen einnahmen.
Nach dem er in jungen Jahren versuchte, die spirituellen Himmelsräume noch einmal in der Darstellung mystischer Themen in seine Zeit zurückzuholen, fühlte er sich durch die Freundschaft mit einem Sinologen zur chinesischen Malerei hingezogen. Vor allem prägten ihn Formen östlicher Philosophie und Weltschau, die zu späterem Zeitpunkt in veränderter Weise sich wieder zeigen sollten. Doch davor liegt eine bewusste Hin­wendung zur stillen und statischen Malweise, die auf nüchterne Objektivität zielte und damit Ähnliches beabsichtigte wie die Maler der so genannten Neuen Sachlichkeit.

In dieser Schaffensphase ist die „Rheinfähre“ entstanden. Die Bewegungslosigkeit des Wassers, die Menschenleere und das dominierende kalte Grünblau ergeben einen Eindruck von Leblosigleit und Starre, der erschauern lässt. Die kühle Atmosphäre ist nach Selbstzeugnissen Julius Bissiers nicht nur Ergebnis einer gewollten künstlerischen Distanziertheit: “…..es entstand eine abstraktes Landschaftsgefüge blecherner Härte, und eines Tags empfand ich plötzlich, dass ich totgelaufen, seelisch verschüttet vor lauter Wille und in eine Sackgasse gerannt war.“ Das Eingeschlossensein, wie wir schon eingangs sahen, teilt sich überzeugend mit in der eigentümlichen Perspektive der Flusslandschaft, die keinen offenen Horizont zeigt. Die Bedrückung steigt durch die Beleuchtung, wie unmittelbar vor einem Gewitter, zwischen Grellheit und verdunkelnder Bedrohung.
Die von Bissier schriftlich und malerisch als depressiv charakterisierte Lebensphase erhält später wieder Ausrichtung durch die endlich errungene Freiheit, sich auf die ungegenständliche Malweise seiner künstlerischen Zeitgenossen einzulassen und in ihr seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln (Freundschaft mit Willi Baumeister) Damit endete der als Kampf empfundene „Dualismus zwischen Bildgesetz und Natur­gestaltung“ (Bissier). Die Gegenstandslosigkeit erlaubt, sich der Autonomie von Form und Farbe als Kern künstlerischen Gestaltens zu widmen. Nicht die Natur war abzubilden, sondern die eigene Formenwelt des Künstlers. Bissier fühlte sich auf neue Weise zum Wesentlichen befreit, nach dem er in den gegenständlichen Gemälden durch nüchtern-objektive Darstellungsweise schon getastet hatte.
Innerlich gespürte Notwendigkeit zum Wesentlichen war das, was die besten der gegenstandslosen Maler zum Bruch mit den traditionellen Malweisen trieb, zur Aufgabe des Gegenstands und damit der perspektivischen Darstellung.

Rückgewinn des spirituellen Raums
Die weiteren Bilder Bissiers sind gegenstandslose Tuschen, Aquarelle und Tempera-gemälde, die mit sensibler Einfachheit und Klarheit beeindrucken. Sie steigen auf aus der Versenkung in innere Räume, in die sich der Künstler meditativ zurückzog. Im Verschließen der Augen vor den äußeren Räumen fand er seine inneren, in denen er sich verbunden fühlte mit dem Universum. Sein frühes Eindringen in die östliche Gedankenwelt des Zen wurde individuell fruchtbar und ließ ein Werk entstehen, das in den letzten Lebensjahren große internationale Anerkennung erreichte. Vielleicht, weil es den gelungenen Dialog enthält zwischen dem persönlichen Zentrum und den universalen Räumen, in denen sich spirituelle und materielle Einheiten verbinden.

 

 

Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 3 – Lothar Quinte

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen von fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

QUANTENTHEORIE UND LOTHAR QUINTE

Lothar Quinte

Weißlasur über Farbe, 1977
Eiöl auf Leinwand, 180 x 91 cm

Versteckte Farben
Blicke, die sich ausrichten auf das Gemälde, landen auf der Oberfläche, sinken kurz ein und lagern sich ab in die milchigweiße, weiche Haut des Gegenübers. Die körperhohe Fläche scheint sich dem Betrachter leicht entgegen zu wölben, obwohl sie nur unperspektivisch zweidimensional ist. Über dem Bildgrund hängt wie ein Vorhang weiße Lasur. Sie verbirgt einen unbetretbaren Farbraum, der mehr zu ahnen als wahrzunehmen ist. Unser eindringender Blick bleibt im Unbetimmten stecken. Wir sind außerhalb des Bildinnenraums, wären wir darin, sprängen uns unvermischte Spektralfarben ungehindert an. Sie sind mit breitem Pinsel in senkrechten Bahnen über die Leinwand gezogen, lassen die Ränder rechts und links frei und wurden mit noch breiterem Pinsel gleichmäßig weiß überstrichen, nur schwach leuchten sie durch den Überzug.
Ungebrochen sind die Ansätze von Rot, Gelb, Blau und Mischtönen oben und unten auf der schmalen hohen Bildfläche zu sehen. Zwischen Start und Ziel tauchen die Farben ab unter die milchige Membran, wo ihre Bahnen nur unbestimmt zu orten sind. Sie verschmelzen fast mit dem gleichmäßig fließenden Weiß über ihnen.

Im alltäglichen Umgang erscheint Weiß neutral und offen, es ist die charakteristische Farbe ohne Eigenschaften. Ohne Buntheit und Profil wähnen wir sie bestens geeignet, zu verbergen und verschwinden zu lassen. Ein Versteck, der sich wie bedeutungslos gibt und die vitale Kraft leuchtender Farben bricht.
Die erwähnte Leere des Weiß ist physikalisch gesehen allerdings eine gründliche Fehlein­schätzung, da das neutrale, gehaltlos erscheinende Weiß sich in der Spektralanalyse als besonders gehaltvoll zeigt. Es ist die Bündelung aller Farben, die Lichtwellen erzeugen. Wird ein weißer Lichtstrahl durch ein Prisma geleitet, betritt er es weiß und verlässt es aufgefächert in sämtliche Farben des sichtbaren Spektrums von rot bis violett
Diese wunderbare Verwandlung hatte zwar im 17. Jahrhundert schon der große Physiker Isaac Newton beobachtet, aber im 20. Jahrhundert wollten die Physiker mehr wissen über Wellenlängen, Geschwindigkeiten und Temperaturen von Licht.

Lichtschwingungen
Was nicht unbedingt heißen muss, dass sich auch der Maler dieses Bildes dafür interessierte. Aber aus biographischen Angaben ist zu erfahren, dass Lothar Quinte tatsächlich fasziniert war von Licht, fasziniert von den Möglichkeiten mit Licht zu gestalten. Obwohl Schattenspiele und Kirchenfenster eine Nebenrolle hatten, brachten sie ihn doch in künstlerische Auseinandersetzung mit den Gesetzen, nach denen sich Lichtstrahlen verhalten.
In der Malerei ist Licht Quintes zentrales Thema. Lichtwellen erzeugen Schwingungen, die wir als Farben wahrnehmen. Und um das Erlebnis dieser Farben auf der Bildfläche ging es Lothar Quinte und um sonst nichts. Seine Farbe ist nicht eingegossen in gegenständliche Formen, sie ist befreit von erzählenden oder appellierenden Inhalten. „An der Malerei interessiert mich einzig und allein das optische Ereignis“, sagt Quinte. Er vertraut, dass die physikalisch beschreibbaren Lichtschwingungen, die von der Farbmaterie auf der Leinwand ausgehen, zu psychischen Schwingungen im Betrachter werden. Farbe ist für ihn die Möglichkeit, Licht zu erleben.

Scharfe Gegensätze
Auf verschiedenen Gemälden von Lothar Quinte ist der reine, weiße Lichtstrahl selbst dargestellt. Mit schneidend scharfen Kanten fährt er über farbige Flächen. Er erinnert an die sensationellen Aufnahmen von Laserstrahlen, die anfangs der Sechzigerjahren durch die Medien gingen. Darauf war extrem gebündeltes, potenziertes Licht zu sehen, dessen technische Verwendung in allen Lebensbereichen Neuerungen und Verbesserungen ermöglichte (Computer, CD, Chirurgie). Der erstaunliche und vielseitige Gebrauchswert des künstlich verstärkten Lichts ließ im Bewusstsein der Öffentlichkeit einen neuen Aspekt der alten Lichtmythen anklingen.

Doch mit ihnen wollte sich Lothar Quinte nicht in Verbindung sehen. In deutlicher Abgrenzung lässt er wissen, dass er keine über Licht und Farbe hinausgehenden Bildinhalte beabsichtige. Zwar gehören Licht und Farbe zum Zentrum der malerischen Tradition, jedoch in Verbindung zu gegenständlichen Inhalten. Erst im 20. Jahrhundert wird isolierte Farbe zum autonomen Bildinhalt in der monochromen Malerei, wie sie auch Quinte ausübt. Der Vorgang erinnert an wissenschaftliche Forschungsmethoden, die das Einzelne untersuchen und seine Komplexität sowohl für sich wie im Bezug zum Gesamten erschließen.
Trotz der Negierung von Sinnbildlichkeit seiner künstlerischen Arbeit, werden Gemälde Lothar Quintes von vielen Betrachtern als „Meditationsbilder“ bezeichnet. In dieser Meinung scheinen sich die künstlerischen Absichten in ihr Gegenteil zu verkehren. Damit beweisen aber Farbe und Bildfläche ihre überzeugende Wirkung, die allein schon zum Innehalten und zur Sammlung führen. Die Reduzierung der Farben, das verhüllte Leuchten im hier betrachteten Bild, sowie die monoton gleichmäßige Pinselführung sind Qualitäten, die die Reaktion unterstützen und zu Erfahrung von Sinnbildlichkeit führen. Sie ist unbestimmt, individuell verschiedenartig erlebbar und verlockt durch die versteckte Farbigkeit unter opalisierender Oberfläche.

Unscharfe Verheißungen
Entgegen dem dem Titel, der nüchtern wie ein Laborprotokoll „Weißlasur über Farbe“ heißt, scheint über dem Bild der Schleier des Geheimnisvollen zu wehen. Das Versteckspiel unter der transparenten Decke, verbunden mit anschließendem Rätseln über den unterschichtigen Farbverlauf, mag diesen Eindruck erwecken. Verborgenes lenkt immer die Aufmerksamkeit auf sich.
Wie anziehend Geheimnis­volles wirkt, erzählen Märchen und Mythen, teilt sich mit in anspruchsvollen Sinndeutungen und alltäglichen Kolportagen. In ihnen bedeutet ein Geheimnis die Verheißung unbegrenzter Möglichkeiten. Es ist ein Raum, in dem etwas geschehen könnte, Wahrscheinlichkeitsraum. Wo die Literatur keine Deutung bietet, fühlen wir uns selbst aktiviert, projizieren unsere Ergänzungen in die Lücken zwischen den verheißungsvollen Signalen und hoffen, das Wesentliche zu treffen. Alle Künste versuchen, sich dem Geheimnisvollen zu nähern und es in ihrerseits geheimnisvollen Zeichen auszudrücken. Wären die dabei entstehenden Chiffren eindeutig, löste sich das Geheimnisvolle auf und mit ihm seine Faszination. Das nicht genau zu Erfassende übt eine gleich starke, wenn auch andersartige Wirkung aus, wie das präzise Benennbare. Es ist wie ein Versprechen, dass das Gesuchte letztlich vorhanden ist.

Insel der Präzision
Diese Bereitschaft zum Umgang mit unbestimmten Bedingungen und zur Intuition ist naturwissenschaftlicher Professionalität überwiegend wesensfremd. In wissenschaftlichem Selbstverständnis ist seit zweihundert Jahren (Cartesische Wende) die Welt rational und objektiv zu betrachten und darzustellen. Dieses Ziel setzt voraus Genauigkeit und Messbarkeit und verdrängt das Subjektive in wissenschaftlichen Theorien. Etwas überzeichnet, gehörten Natur-wissenschaftler zu einer Spezies von Menschen gezählt, die sich unterscheidet von den alltäglichen Zeitgenossen, die ihren anthropologischen Bedingungen folgen und Intuition und Gefühle bei der Suche nach Erkenntnis einsetzen. Diese Erkennniswege haben keine scharfen Ränder, sondern durchdringen Phänomene auf oft unbestimmte Weise. Trotzdem können sie den Kern der Wahrheit unmittelbar erschließen. Künstler nähern sich meist mit Vergnügen dem nicht Messbaren, dem Unbestimmten und finden dort die Freiräume für individuelle Deutungen, wie sie sich auf den „Wegen ohne scharfe Ränder“ einleuchtend darstellen. Doch auch bei manchen Naturwissenschaftlern ist wachsende Offenheit gegenüber dem Zusammenspiel rationalen und nicht-rationalen Erkennens ablesbar.

Inselbeben
Stellen wir uns vor, dass der Strom menschlicher Erkenntnismöglichkeiten eine Insel des ausschließlich objektiven, präzisen, naturwissenschaftlichen Erkenntnis umfließt. Die Bewohner dieser Insel wurden aufgeschreckt durch mehrere Erdbeben während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Erstaunlicherweise waren diese selbst verursacht. Eine Elite von Naturwissenschaftlern (Plank, Heisenberg, Bohr, Schrödinger, Pauli, Einstein), setzte eine neue Physik an die Stelle der klassischen und boten der Menschheit ein verändertes Verständnis der Welt an.                                                            Eigentlich wollten diese Wissenschaftler nur im Rahmen der Spektroskopie sich mit dem Licht beschäftigten, das von Materie ausgeht oder von ihr geschluckt wird. Dabei überraschte sie die Tatsache, dass der dabei beobachtete Energieaustausch nicht wie erwartet gleichmäßig, sondern ungleichmäßig erfolgte, in so genannten Quantenpaketen. Das bisherige Bild vom kontinuierlichen Verhalten der Natur geriet ins Wanken. Weiter ergab sich ein unbestimmbares Verhalten atomarer Teilchen beim Versuch, genaue Messungen über deren Ort und über ihre Geschwindigkeit zu erhalten. Entweder ist der Ort erkennbar, aber nicht die Geschwindigkeit oder umgekehrt. Hier entzieht sich die Materie präzisem, wissenschaftlichem Zugriff und bietet ihm nur Möglichkeiten ihres Verhaltens an.
Schließlich erhielt der Anspruch auf wissenschaftliche Eindeutigkeit einen weiteren Stoß beim experimentellen Nachweis, dass das Phänomen Licht zweideutig auftritt, indem es sich je nach Beobachtung als Teilchen oder als Welle darstellt (Welle-Teilchen-Dualismus).
Genau genommen zeigen die Elektronen überhaupt erst Eigenschaften, wenn sie beobachtet werden. Ihr jeweiliges Verhalten ist also Ergebnis einer Interaktion mit dem Beobachter und der Art seines Experiments. Auch ob sich Licht in Form von Wellen oder in Form von Korpuskeln zeigt, ist von der Art der Befragung abhängig. Mit dieser Erfahrung wurde die Spur des Subjektiven in der Naturwissenschaft offen­gelegt.
Die Beben, die die Insel der naturwissenschaftlichen Objektivität erschütterten, waren also von verschiedenen, aber zusammenhängenden Erkenntnissen ausgelöst: Die wissenschaftlichen Theorien über die Welt werden von da an Unbestimmtheit, Zweideutigkeit, Wahrscheinlichkeit und Diskontinuität einzuschließen haben. Aus neuer Sicht stellt sich die alte Frage nach der Determinierheit der Welt.

Qualitäten des Unbestimmten
Somit ist die Bedeutung der Quantentheorie nicht nur physikalischer, sondern auch philosophischer Art. Die Erkenntnisse, die die damaligen Physiker überraschten, öffnen die Augen für Materie und Energie, als nur potenzielle wie auch vorhandene Realität unserer Welt. Der Einbruch des nicht Bestimmbaren, des nicht klar zu Trennenden, des „Sowohl-als-auch“, wie es der Physiker und Heisenberg-Schüler H. P. Dürr nennt, ergänzt komplementär die einseitige Weltsicht der rationalen Objektivität. Unbestimmbarkeit in der Physik zeigt auch, dass Natur komplexer ist als das wissenschaftliche Bild von ihr. Wir zeichnen es nach den Antworten der von uns gestellten, experimentellen Fragen und spiegeln uns selbst in der so entworfenen Natur.

In der Unbestimmtheitsrelation wie sie Werner Heisenberg 1927 formulierte, liegt eine Zusammenfassung des neuen Bildes der Materie, aus der die Welt besteht. In ihm haben Unbestimmbarkeit und Wahrscheinlichkeit Platz, ihre statistischen Werte sind durchaus zu fassen und mathematisch verwendbar. Der komplementäre Raum zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem, zwischen Möglichkeit zur Realität und vollzogener Realität bildet die Gesamtheit der Welt. Sie bleibt uns in mancher Hinsicht verborgen.                                                          Doch dieser Bereich des unbestimmt Möglichen steht unseren Erfahrungen im Leben und in der Kunst nahe. Lothar Quinte integriert in dem betrachteten Bild das Unbestimmte in seine künstlerische Komposition. Es ist ein Medium, das die Bedeutung des Verborgenem vermittelt. Die intensiven Farbbahnen unter der unbestimmten weißen Verunklarung sind wie physikalische Phänomene, die auch wirken, wenn sie nicht genau bestimmbar sind. Vielleicht sind die unbestimmbaren Wirkungen die wirksamsten.­

 

 

Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 4 – Willi Baumeister

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen von fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

AUF PARALLELEN WEGEN

Willi Baumeister
Faust, Schatten I, 1952
Ol auf Hartfaser, 81 x 100 cm

„Alles Stoffliche löst sich auf in Kräfte,“sagte der Maler Willi Baumeister 1950 in einem Vortrag und charakterisierte damit nicht etwa seine ungegenständliche Malweise, sondern die Atomphysik. Sie war es, die im Mittelpunkt der Interessen stand und seit fünf Jahrzehnten im Vordergrund der naturwissenschaftlichen Forschung.

Ins Innere der Materie
Die Beziehung zwischen Stofflichem und Kräften oder anders ausgedrückt, die Beziehung zwischen Materie und Energie beschäftigte die Physiker. Die Vorstellung von Atomen als kleinste Bestandteile der Materie war zwar seit der Antiken bekannt, aber nun rückten weitere Eigenschaften ins Visier der Wissenschaftler. Sie untersuchten die Kräfte und Dyna­miken, in deren Bahnen und Felder Atome sich bewegen, annähern, entfernen und schließlich sichtbare Welt bilden. Nicht die Vorstellungen von Atomen als Bausteine der Materie erwiesen sich als zutreffend, sondern solche, in denen dynamischer Bewegungen enthalten sind. Nicht mit unteilbaren, kleinsten Einheiten gingen Atom­physiker um, sondern mit Atomkernen, deren Spaltbarkeit sie entdeckt hatten. Durch diese Entwicklung wird die Menschheit konfrontiert mit unvorstellbare Kräften, die naturwissenschaftliche Forschung und Technologie freizusetzen vermag.

Beim Vordringen in das Innere der Materie entdeckten die Forscher, dass unter der Welt der Atome sich eine weitere, nämlich subatomare Welt befindet  Sie verhält sich anders als es aus der klassischen Physik heraus zu erwarteten war. Im Subatomaren waren keine noch so kleinen materiellen Bestandteile zu untersuchen, sondern die Gesetzmäßigkeiten von unsichtbaren Elementarteilchen, deren energetische Wirkungen man aufspüren konnte, die aber in Raum und Zeit nur unter vorgegebenen Bedingungen zu bestimmen waren. Diese Vorgänge werden durch die Quan­tentheorie beschrieben und ihr folgend entfaltet sich das Bild einer Wirklich­keit, deren Inhalte nicht isoliert bestehen, sondern dynamisch miteinander verbunden sind.

Dynamischer Tanz                                                                                                              Der atomphysikalischen Sicht folgend, sind die Welt und unsere eigene Existenz anders, als wir sie erleben. Der anfaßbare, sichtbare Gegenstand und seine statische Geschlossenheit verwandelt sich in etwas, das aus Bewegungen und Kräften geformt ist. Die harte Konkretheit des Stoff­lichen transferiert in ein Bild seiner inneren Bewegungs­energien, die die Formwerdung erst ermöglichen. Die gegenständliche Welt ist keine aufgebaute, sondern ein schwebender, kurvender Tanz. Der Verlust materieller Substanz selbst kleinster Teilchen macht Platz dem Fließen von vergleichsweise geistig erscheinender Wirkungen. Die Choreographie dieser Kräfte bildet unterschiedliche Figuren und Gestalten, die die Objekte unserer Sinneserlebnisse sind. Wir sehen und spüren sie in fester Gegenständ­lichkeit, aber ihr eigentliches Sein ist innerer Dynamik.

Die psychischen Energien des bildenden Künstlers folgen der gleichen Eigenart. Die Dynamik einer Idee manifestiert sich mittels Werkzeug und Materialien zu den Elementen des Kunstwerks. Die entstehenden Formen sind Wirkung innerer Kräfte, die nicht statisch im psychischen Inneren verbleiben, sondern zur dynamischen Kommuni­kation mit dem Außen drängen. Geistige Energie materialisiert sich zu sinnlich Wahrnehmbaren in der Kunst, während in der Atomphysik das sinnlich Wahrnehmbare als immaterielle Energie erkannt wird.

Auflösung des Gegenstands                                                                                                Das heißt beim betrachteten Bild: Die physikalischen und mathematischen Theorien über die Zerlegung der Dingwelt in ihre kleinsten und energetischen Bestandteile, die Erfahrungen der Forscher mit den unbekannten Energieverhalten und den Problemen, diese zu bestimmen, schaffen synchron eine bestimmte geistige Atmosphäre. Der naturwissenschaftliche Paradigmenwechsel beginnt mit neuen Mög­lichkeiten des Vorstellens, Denkens, Formgebens langsam und auf verschiedene Weisen im geistigen, kulturellen Leben präsent zu sein.
Nachdem in der Naturwissenschaft der Gegenstand in Atome und Energien zerlegt wurde, gewinnt auch die Kunst einen neuen Blick auf die gegenständliche Welt. Die analytisch erreichte Relativierung des Gegen­stands legt nahe, ihn auch in der künstlerischen Darstellung durch nicht-gegenständliche Inhalte zu ersetzen. Selbst diese freien, ungegenständlichen Formen werden in der Malerei des 20. Jahrhunderts von manchen Malern nochmals reduziert. Sie verabsolutieren die urkünstlerischen Elemente, die Bildmittel Farbe und Form. Beide werden abgelöst vom Gegenstand und somit selb-
ständig in der Farbfeldmalerei demonstriert. Das neue Verständnis von Materie begünstigt Entwicklungen in der bildenden Kunst, die zur Geburt der abstrakten Malerei in verschiedenen Formen führt. Gleichzeitig steht die Fotografie bereit, das Abbilden des gegenständlich Sichtbaren zu übernehmen.

Der abstrakte Maler Willi Baumeister schildert die Situation von Kunst und Wissenschaft seiner Zeit in Fortführung des anfangs zitierten Satzes folgender­maßen: „Im subatomaren Bereich gibt es Teile, die sich, unbekannten, freien Kräften zufolge, unbestimmbar verhalten. Auch hier Antilogik, Entmaterialisierung, Entstofflichung, dafür Bewegung und Schweben. Hätten die abstrakten Maler diese Bestätigung durch die Wissenschaft nicht, so würden sie trotzdem wie bisher ihrer eigenen unbekannten Führung weiter folgen, denn die Kunst hat parallel entdeckt und ist keine Illustration zu modernen physikalischen Vorgängen.“ Deutlich ist gesagt, daß die abstrakte Kunst nicht in einer kausalen Abhängigkeit zur Wissenschaft steht.
Jedoch gleichzeitig beobachtet Baumeister die synchrone Analogie von Phäno­menen der Atomphysik und der gegenstandslosen Malerei, die er
Auf parallelen Wegen und andere praktizieren. Sie macht ihn aufmerksam auf Dimensionen des wissenschaftlichen Zeitgeschehens, die sich parallel zur Eigenart seines eigenen künstlerischen Schaffens ausbreiten. Die „eigene, unbekannte Führung“ durch das Unbewußte schafft in Baumeister Formen, die aus ihm emporsteigen und sich im Bilde materialisieren. Sie sind Teil der menschlichen Natur und in diesem Sinn ebenfalls Naturformen, wie die, die wir wahrnehmen in der gegenständlichen Welt. Sie fungieren als Objekte naturwissenschaftlicher Forschung so, wie die inneren Figurationen Bau­meisters Objekt der künstlerischen Bearbeitung sind.

Raum ohne Gegenstand                                                                                                    Das Bild, das Willi Baumeister 1952 gemalt hat, läßt uns als Betrachter eintreten in einen Raum ohne Gegenstände, ohne Dinge, wie wir sie zu sehen gewohnt sind. Diese Tatsache allein läßt spüren, dass wir uns in einer anderen Wirklichkeit befinden, die nichts mit der Alltags­wirklichkeit zu tun hat und ungeahnte bildnerische Möglichkeiten anbietet. Die Virtualität des Bildraums ist nicht durch mediale, digitale Techniken geschaffen, sondern läßt ein Hervorkommen aus psychischen Imaginationen erahnen. Sie entspricht  völlig der individuellen Innenwelt Willi Baumeisters.
Unbenennbare, aber deutliche, kräftig farbige Formen bewegen sich schwebend über die hellgraue Fläche. Eine schwarze, senkrecht gelagerte Form driftet auseinander wie ein erschütterter Kontinent, der Inseln bildet. Die spitzwinklige schwarze Dreiecksinsel wächst zusammen mit farbstarken Formen auf einem blauen Trapez und bildet eine neue Einheit mit ihm. Gelegentlich dicht, dann wieder weiter entfernt hängen Formen, die aussehen, als könnten sich ihre Umrisse jeder Zeit verändern. Manche sind umzittert von zarten, linearen Tentakeln. Ein zentrales Kräftegefüge bestimmt über Bewegung, Annäherung und Dis­tanzie­rung der Formen untereinander, über ihre Schwere und Leichtigkeit.

Künstlerische Visionen                                                                                                         Mit welchem Wahrnehmungsorgan fasst der Maler diese Phänomene, die er auf der Hartfaserplatte mit Ölfarbe bannt, als wären sie selbstverständlich? Baumeister selbst beschreibt den Vorgang in seinem Buch „Das Unbekannte in der Kunst“ in etwa folgendermaßen: Als Künstler geht er von einem Einfall, einer Vision aus, die aus ihm selbst aufsteigt. Es sind nicht Formen, die draußen sind, sondern solche, die in ihm sind. Er bildet also nicht ein vorgegebenes Motiv ab, sondern bildet selbst das Motiv. Um die Vision dazustellen, wählt er seine Mittel weniger aus, als daß sie ihm entgegenkommen. Die ersten Bestim­mungspunkte, Spuren und Farb­akzente auf der Bildfläche ziehen den Künstler immer mehr in den Einflußbereich seiner Ausdrucksmittel. Es entsteht im bildnerischen Prozess ein Navigieren zwischen der Vision und dem nun Sichtbar-werden, dem Ausspielen des Konkreten.
Das ursprüngliche Ziel relativiert sich zugunsten eines Erkenntnis­zieles, das er auf dem Weg künstlerischen Formerfindens zu erreichen sucht. Die aus des Künstlers Mitte aufsteigende Form­dynamik treibt ihn „zu einem unbekannten Ort, zu dem bisher Unbekannten.“

Naturwissenschaftliche Visionen                                                                                      Der hier beschriebene künstlerische Gestaltungsprozess entspricht in zentralen Zügen dem wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang, wie ihn viele große Naturwissen­schaftler beschreiben. Der Durchbruch zu einer lang gesuchten Prob­lemlösung ist oft eingebettet in ein kreatives Verlassen des engeren Ziel­feldes, einem intuiierenden Umkreisen des Problems, das Aufsteigen innerer Bilder, sogar traumartiger Sequenzen, zuläßt. Bekannte Natur­wissenschaftler von Johannes Kepler bis Werner Heisen­berg beschreiben noch nachträglich ergriffen ihre psychische Situation, in der sie Unbe­kanntes aus sich aufgestiegen sahen, das sich formierte zu einer neuen, bisher nicht gefundenen, oft Aufsehen erregenden Erkenntnis.

Diese lebhaften Erfahrungen von Künstlern und Wissenschaftler be­ein­drucken durch den Formwillen psychischer Kräfte. Sie korrespondieren mit den bewußt verfolgten Absichten, aber sie entfernen sich auch von ihnen und werden gerade dadurch fündig. Offensichtlich sind es andere, nicht bewußte psychische Bereiche, aus denen sie schöpfen.
Die psychische Dimension des Unbewußen ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenfalls Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Sigmund Freud und C.G. Jung beschäftigten sich in der Psychoanalyse mit jenen inneren Kräften, auf die sich der Künstler Baumeister bezieht. Zum „Unbekannten“ in seiner Kunst führt ihn das Unbewußte. Er erfährt dessen Kräfte als Formgeber seiner Bildinhalte und sie verbinden ihn mit den archetypischen Vor-Bildern der Menschheit.

Dem Naturwissenschaftler fällt es erfahrungsgemäß schwerer, die apriorischen Prägungen seiner Erkenntnisse zu schätzen, ein Formerfühlen und gestaltbares Formerleben neben mathematischem Erfassen zu akzeptieren. Obwohl gerade diese Konditionierung und diese Fähigkeiten, die außerordentlichen Durchbrüche außer­gewöhnlicher Natur­wissenschaftler geschehen lassen. Der mathematische Physiker und Nobelpreisträger von 1945 Wolfgang Pauli spricht in diesem Zusam­menhang vom „Vorhan­densein regulierender typischer Anordnungen, denen sowohl das Innen wie das Außen des Menschen unterworfen ist,“ und fragt nach den „Urbilder im Hinter­grund der Physik“.
Die Naturwissenschaften, wie Atomphysik, Molkularbiologie, wissenschaftliche Psychologie, und die bildende Kunst folgen im 20. Jahr­hundert der gleichen Bewegungsrichtung. Sie befinden sich auf einem Weg vom sichtbaren Außen zum unsichtbaren Innen und erkennen dort das Wirken von Energien.

Fausts Schatten
Willi Baumeister hat das Bild, das diesen Überlegungen vorausgestellt ist, „Faust, Schatten I“. genannt. Es sind mehrere Bilder entstanden, als der Künstler Goethes Faust las und sich mit der bedrohlichen und stellvertretenden Seite dieser Figur auseinandersetzte. Der Widerschein dessen in Baumeisters Inneren muß in dieses Bild projiziert sein. Es illustriert keine Personen des Dramas, sondern quasi ihre Schatten auf der Innenwand der Seele. Die dort gebildeten Formen bewegen sich als Motivelemente zur Malfläche. Sie halten Spannungen untereinander, positionieren Gewichte oder lassen sie entschweben, gemäß den Steuerungen, die von „Faust“ und dem Malprozess selbst ausgehen.

Gemeinsamkeit
Willi Baumeister betrachtet die Figurationen aus seelischem Erleben, die Inhalt seiner Bilder sind, als „Naturformen“ in dem Sinn, dass alles, was aus dem Menschen aufsteigt, von seiner Natur geschaffen ist und nur Natur sein kann. Ganz einfach gesagt: „Natur hat sich geäußert.“ Seine Zeitge­nossen teilten nicht unbedingt diese Anschauung, sondern sahen in der ungegenständlichen Kunst eher etwas Unnatürliches und während des  sogenannten Dritten Reiches sogar „Entartetes“. Dagegen schreibt Willi Baumeister: „Das Substantielle der künstlerischen Ausdrucksmittel ist das Natürliche, das die Konkretisierung des Kunstwerks allein bewirkt.“ In diesem Sinn ist das betrachtete Objekt von Künstler und Wissenschaft eines, das sie verbindet, nämlich die Natur.

Naturwissenschaften in der Kunst der Moderne 5 – Hans Arp

Begegnungen von Naturwissenschaften und Kunst finden statt, wenn die Betrachtung von Bildern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen einbezieht. Sie formen mit am Zeitgeist, dem Hintergrund vor dem der Künstler arbeitet und fließen ein in sein Werk.

Mit den Betrachtungen der fünf Bildwerken des 20. Jahrhunderts ist der Versuch angeboten, auf ästhetischen und reflektierenden Wegen in die Zusammenhänge unterschiedlich erscheinender und doch verbundener Denk- und Vorstellungsstile einzugehen. Wissenschaft und Kunst, beide formen den Umgang mit Wirklichkeit und sie erzeugen Wirklichkeit.

 

GESETZ IM ZUFALL
UND
ORDNUNG IM CHAOS

Hans Arp
Configuration volier dans la forȇt, 1958
Reliefcollage, Öl auf Karton, 55 x 46 cm

 

Mit der Wolke gegen die Strömung
Mit Papier und Schere in der Hand und der inneren Bereitschaft, aufzunehmen, was ihm zufällt, bildete Hans Arp seine eigentümlichen Formen. Auf den ersten Blick sind sie uns fremd und doch vertraut; sie sind ungegenständlich, erscheinen jedoch nicht abstrakt, weil sie naturhaft sind; sie sind gebaut und organisch, aber schweben und fließen, obwohl sie sich zu maßvoller Monumentalität verfestigen.
Wie entstehen diese widersprüchlichen Wirkungen, welchen Zufällen vertraut Hans Arp wagemutig sein künstlerisches Tun an? Sie lassen seine “morgenrote traumwolke” aus der Hand fallen, „die sterne spalten sich und speien attrappen” und trotzdem verkündet der junge Arp: „Den alten Adam zieh ich aus zwölfmal pro Tag zum Zeitvertreib.” So steht es jedenfalls in seinem dichterischen Werk, das parallel zum bildnerischen geschieht. Bei beiden Künsten offenbart Hans Arp Wohlbefinden in der unberechenbaren Welt des nicht Vorhersehbaren. Er entzieht sich spielerisch, burlesk dem Zugriff des Rationalen, das nach seiner Meinung zu sinnleeren Traditionen geführt hat, entseelende Technisierung vorantreibt und einen blindem Fortschrittsglauben vertritt. Distanziert zu den äußeren, materiellen Leistungen der Wissenschaft möchte sie Arp ausbalancieren durch Zuwendung zur Innerlichkeit, durch „ein Mehr an Traum”. Zu ihm gelangt er mit dem Vehikel des dadaistischen Unsinns, der nicht Blödsinn ist, sondern „dada ist unsinnig wie die natur und das leben.”
Dada hat also komplexeren Sinn als mit den gebräuchlichen Meinungen und Regelwerken zu fassen ist. Diesem Weiten, Ungefähren vertraut sich Arp im Zufall an. Es verspricht ihm unmittelbares Lebendigsein. Natur ist für ihn nicht in determinierenden Gesetzmäßigkeiten gefangen, sie ist nicht benutzbar zur Erfüllung menschlicher Fortschritts- und Wohlstandsträume, sondern sie ist belebendes Innerstes alles Existierenden.

Das Tor des Zufalls
Der offen angelegte künstlerische Akt verhilft diesem Inneren sich zu äußern, sich im Bildhaften zu manifestieren. Wenn Arp sich dem Zufall ausliefert, ihn das Geschehen auf der Bildfläche organisieren lässt, entsteht Synchronizität von innen und außen, von Kosmos und Psyche. C.G. Jung charakterisiert solche Zusammenhänge als „sinngemäße Gleichartigkeit in heterogenen, kausal nicht verbundenen Vorgängen.” Verbindet sich der analoge Prozess mit dem ausgeprägt spielerischen und poetischen Impulsen eines Hans Arp, entsteht eine unverwechselbare Zeichensprache.
Dass er die Zensur des Rationalen so weit nach hinten verlegte, um die spontane Assoziation des Unbewussten wirken zu lassen, bringt ihn in die Nähe der zeitgenössischen Surrealisten. Sie nannten diesen Vorgang, in dem das Unbewusste die Feder führt, „écriture automatique”. Doch die Ähnlichkeit ist eine äußerliche: Automatisch ist nicht lebendig, und Arps Verweis der Ratio auf den zweiten Platz ist nicht der Versuch ihrer Ausgrenzung. Gerade auf Ganzheit von Leben, nicht auf Abtrennung, zielt das Oeuvre des Künstlers. Das Ausatmen der Formen zur Bildwerdung ist der Hauch der lebendigen, umfassenden Natur, mit der sich Hans Arp eins fühlt, hinter der er sogar nach eigenen Aussagen in Anonymität zurücktreten möchte. Dem anonymen Unbewussten Vorschub zu leisten, ist nur eine Facette dieser Bescheidenheit.

„Configuration”
Aus dieser Beziehung zur Natur ist in der vorliegenden Reliefcollage das gemeinsame fließende Spiel der dunklen und der hellen Form entstanden. Es strömt aus oder mündet, je nach Lesart, aus der linken unteren Bildecke. Die dunkelblaue Bahn erreicht links oben den höchsten Punkt, kehrt in sehr spitzen Winkel um und gibt sich nach einer weichen, fast rechtwinkligen Kurve eine breit gelagert Basis. Die Ausbuchtung an der rechten, dunklen Innenkontur ist wie ein Scharnier, das die helle Innenfläche mit dem umfließenden Strom verbindet. Diese winklige Halbinsel lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei türkisfarbene, unregelmäßige Ovale in ihrer Nähe, die in der reliefhaften Staffelung der verwendeten Papiere das oberste Plateau einnehmen. Solche bewegten Eiformen sind zu Hause in der Arpschen Bilderwelt, wir begegnen ihnen immer wieder und sie erzählen jedes Mal von den wunderbaren Verwandlungen des naturhaften Sterbens und Werdens.
Beim Blick auf das Bild folgt unser Auge mühelos dem Verlauf der Formen, wird in weichen Wellenbewegungen über die Fläche geleitet, von nicht zu plötzlichen Bewegungswechseln und türkisfarbenen Überraschungen angenehm unterhalten und kehrt beruhigt und stabilisiert zurück.

Kongenial zur Natur
Sonderbarerweise scheinen wir bei diesem visuellen Spaziergang eine ungegenständliche Naturbegegnung auf dem Feld der Kunst zu erleben. Die ausspannende Figur ist zweifellos nicht aus Abstraktion von Naturformen zu verstehen, sondern aus dem Prinzip eines Schaffens, das sich als gleichgestellt und kongenial mit der Natur fühlt. Wenn der Künstler bildet ohne abbilden zu wollen, aber mit der Beigabe seines Geistes, ist die aus ihm fließende Form Naturform. Sie ist konkret, nur sich selbst und nichts mehr. „Wir wollen bilden wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbilden. Wir wollen unmittelbar nicht mittelbar bilden“, schreibt Arp.
Auf diese Weise entstehen unter seinen Händen klare, wellige Formen, die wie in der Natur zahlreich variierte Wiederholungen im Gesamtwerk erfahren. Die Einfachheit der Grundmotive ist einprägsam und die Vielfalt ihrer Veränderungen beeindruckend. Die Ökonomie der Natur gab die Strategie vor.
Arps Naturhaftigkeit verklärt nicht wie im 19. Jahr­hundert üblich. Trotzdem ist sie stark genug, sich gegen die Objekthaftigkeit des zeitgleichen Naturbegriffs in Wissenschaft und Technologie aufzulehnen. Die wissenschaftliche, rational begründete Unterwerfung der Natur ersetzt der Künstler durch ein Werk, das Ausdruck von Mit-der-Natur sein möchte.

„Nach dem Gesetz des Zufalls geordnet”
Durch diese Benennung eines Holzreliefs schlägt Hans Arp 1943 ein Leitmotiv seines Arbeitens an, den Zufall als „die unfassliche Ordnung, welche die Natur regiert.” Sein im Laufe des Lebens immer tiefer reichender Blick erkennt die Regelhaftigkeit des Zufalls auf dem Grund der Weltwerdung. „Zufall ist die Regel der Regeln” (Magritte 1959), die den Kosmos steuert, er überführt die Alltagserfahrung in einen übergeordneten Zusammenhang, in einen mystischen Vorstellungshorizont.
Mit dieser Sicht hatte sich Arp schon früh beschäftigt, als er in den Texten seines Strassburger Landsmanns Johannes Tauler aus dem 14. Jahrhundert las. Sie ließen Hans Arp und seine dadaistischen Freunde eine Befreiung zur kosmischen Verbundenheit erleben. Was regellos erschien, zeigte sich in Zugehörigkeit zu komplexen Ordnungen. Diese Auffassung bestätigte Arps intuitiven Glauben und damit den Ursprung seiner künstlerischen Imagination. Vice versa erzeugte die Kraft seiner Imagination das Bild von der Ordnung der chaotischen Zufälle. Unausweichlich wuchs so die Überzeugung, dass Chaos der schöpferische Urgrund des Werdens ist, dass in ihm alle Gegensätze vereint werden, so auch der Zufall mit der Regel.

Dieses innere Bild der Welt verband Hans Arp mit alten Weisheitslehren, trennte es aber vom zeitgenössischen, wissenschaftlichen Weltbild. In ihm scheinen die Ordnungen des Mikro- und Makrokosmos weitgehend bekannt, sie werden immer vollständiger erfasst und können somit manipulieret werden. Das Unvorhersehbare findet nicht statt in einem Weltentwurf, der keinen Platz für die Poesie des Zufalls und der Teilhabe an den Wahrheiten des Indeterminierten bietet. Selbst Albert Einstein konnte sich bekannterweise keinen Gott vorstellen, der würfelt.

Doch mit der digitalen Möglichkeit, eine unvorstellbare Menge an Daten von Naturvorgängen zu sammeln und mathematisch immer tiefer zu durchdringen, wird eine halsbrecherisch erscheinende Kehrtwendung im wissenschaftlichen Weltbild möglich. Die Bewegungsschleife führt vom determinierten Weltbild zum determinierten Chaos, das wieder ins determinierte Weltbild einmündet, dieses aber um Qualitäten der Offenheit und Potentialität bereichert.
Wobei die Metapher vom Würfeln sich in relativierter Weise als zutreffend für die Beziehung zwischen Zufall und Ordnung erweist. Aus größerer Distanz gewissermaßen und in Berücksichtigung möglicher Bedingungen wird im unregelmäßige Muster des Zufalls die Ordnung sichtbar, zeigt sich, wann der Würfel gewinnen kann.

Welt aus Chaos und Ordnung
In seinen letzten Lebensjahren fiel Hans Arp eine wissenschaftliche Bestätigung in den Schoß, die sein Bild der Natur, als „vom Gesetz des Zufalls geordnet”, unterstützte. Ob er sie beachtet hat, ist nicht bekannt. Die neue Theorie über das Universum jedenfalls verkündete, dass Zufallsereignisse einem determinierten Chaos zu verdanken sind (Ian Stewart). Chaos als Ausgangslage eines entstehenden Systems ist seit mythischen Urzeiten bekannt. Aber nun zeigt es seine ständig wirkende Präsens und Forscher versuchen, die Strukturen des Chaos als Theorie und computergeneriertes Bild zu vergegenwärtigen.
Bisher hatte das Auftreten von Unvorhergesehenem ohne erkennbare Gesetz- und Regelmäßigkeit die Forschung immer wieder an die Grenzen der erwarteten Determiniertheit gestoßen und ihre Aufmerksamkeit auf das Finden des Gesetzmäßigen reduktioniert. Die immensen mathematischen Kapazitäten der Computer eröffneten wissenschaftlichen Theorien und Vorstellungen, neue Räume und ein verändertes Verständnis davon, wie Ordnung in Chaos übergeht und Chaos in Ordnung.
Nun werden unerwartete Veränderungen als Verhaltensmuster komplexer Systeme erkennbar. Was die naturwissenschaftliche Beobachtung irritierte, verrät in der Zusammenschau differenzierte Zusammenhänge. Zufall bestimmt also so gut wie Gesetzlichkeit den Kosmos und enthält Regeln in der Regellosigkeit. Dies erfassen zu können, war der Entwicklung der Computertechnik in den Siebzigerjahren zu verdanken, sie gab dem Zufall ein neues Gesicht.
Die Variabilität und Kompliziertheit biologischer und physikalische Systeme ist nach Ansicht mancher Wissenschaftler dem Chaos wie dem regelmäßigen Muster gleich nahe. Das komplizierte Zusammenspiel von beiden lässt die Augen aufgehen für Strukturen, die Welt bilden.

In dieser Perspektive wird deutlich, was Hans Arp aufgrund nicht-wissenschaftlicher Erkenntnis längst vertrat, als er in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts über das „Gesetz des Zufalls” schreibt”, welches alle Gesetze in sich begreift und uns unfasslich ist wie der Urgrund, aus dem alles Leben steigt…”. Sein Weg, sich dem Urgrund zu nähern, ging über die Hingabe an das Unbewusste, der Weg der Naturwissenschaften ist ein anderer, aber mit einem ähnlichen Ergebnis als Quintessenz.